Schostakowitsch – Doppeltes Spiel. Eine Hörbiographie von Jörg Handstein
von Dr. Andreas Ströbl
Vor genau einem Jahr erschien „Doppeltes Spiel“, die Schostakowitsch-Hörbiographie von Jörg Handstein in der Reihe „BR Klassik“. Zu Weihnachten 2021 hätte wohl kaum jemand glauben mögen, dass binnen zweier Monate ein innereuropäischer Angriffskrieg entgegen jeglichem Völkerrecht bald die Schlagzeilen beherrschen könnte. Nun ja, Dmitrij Schostakowitsch hätte wahrscheinlich eingeräumt, davon nicht überrascht zu sein. Schließlich hatte er jahrzehntelang unter der Stalin-Diktatur gelitten und wusste, was es heißt, beständig in der Angst vor einem völlig unberechenbaren Alleinherrscher mit der gut organisierten Geheimpolizei eines totalitären Regimes leben zu müssen.
Und so erhält diese ausgezeichnet gemachte Biographie eine erdrückende Aktualität, denn genau das riesige Sowjetreich, in dem Andersdenkende jeden Tag Angst haben mussten, verhaftet, deportiert oder gleich umgebracht zu werden, ist der große Traum des amtierenden Machthabers, sowohl territorial als auch strukturell.
Zum Verständnis solch einer Atmosphäre des Terrors hat sicher auch der hervorragende biographische Roman „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes von 2017 beigetragen, ein faszinierend düsteres Stimmungsbild der Stalin-Ära. Ein Verfolgter des NS-Regimes hat dem Rezensenten in den 80er Jahren oft von den Methoden der Gestapo erzählt und unterstrichen, dass das Effektive am Terror weniger das ist, was man sieht, als das, was im Verborgenen geschieht: „Onkel Hans ist abgeholt worden, aber man weiß nicht, wo er ist“. Angstmachen funktioniert am besten durch eine beständige Verunsicherung mittels Intransparenz. Die Macht kann jeden Moment zuschlagen, keines der Opfer kennt diesen Zeitpunkt und was passiert, wenn man erst einmal von den Klauen des Apparats gepackt worden ist. Da ist manchmal ein doppeltes Spiel existenzentscheidend, um das eigene Selbst hinter einer regimetreuen Maske zu verbergen.
Wie sehr das politische Geschehen die Vita dieses neben seinen Leidensgenossen Sergej Prokofjew und Aram Chatschaturjan wichtigsten sowjetrussischen Komponisten beherrschte, macht Handstein in den Erzähltexten durch 10 Kapitel hinweg sehr deutlich. Gelesen werden sie mit der angemessenen Sensibilität von Udo Wachtveitl, einem breiten Publikum bekannt als „Tatort“-Kommissar Franz Leitmayr. Natürlich ist Wachtveitl ein großartiger Schauspieler, aber er liest so engagiert, dass man ihm wirklich abnimmt, sich intensiv mit Schostakowitsch auseinandergesetzt zu haben.
Die Texte sind ausgesprochen kenntnis- und detailreich, was die politischen und biographischen Hintergründe ebenso wie die musikalischen Aspekte betrifft. Auf einige Anglizismen, die dem Ganzen einen modernen Habitus geben sollen, hätte Handstein aber gerne verzichten dürfen, abgesehen davon, dass beispielsweise kein Engländer oder US-Amerikaner in der Bedeutung, wie die Wendung bei uns verwendet wird, „No go“ sagt.
Mit Ulrich Matthes als Sprecher der Schostakowitsch-Zitate hat man in dieser Produktion einen feinnervigen und vielseitigen Schauspieler gewinnen können; die ganze Bandbreite von Freude, Selbstbewusstsein, Traurigkeit und echter Angst liest Matthes wirklich eindrucksvoll.
Weitere Texte werden wiedergegeben von Thomas Birnstiel, Robert Dölle, Constanze Fennel, Beate Himmelstoß, Shenja Lacher und Hans-Jürgen Stockerl. Für die einwandfreie Abmischung und feine Abstimmung sind in Redaktion und Regie Bernhard Neuhoff sowie in Tonregie und Technik Michael Krogmann und Daniela Röder verantwortlich.
Die beigefügte Symphonie Nr. 5, eingespielt vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons, kann man je nach Belieben zum Einstieg oder Abschluss hören; die Aufnahme besticht durch verzweifelte Leidenschaftlichkeit und angemessene Feinsinnigkeit gerade in den ironischen Untertönen.
Die waren Schostakowitsch besonders wichtig, ebenso ihre geschickte Tarnung unter einer vermeintlichen Verherrlichung des Potentaten und der von ihm diktierten Kulturpolitik: „Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen. […] So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“ Glücklicherweise war Stalin entweder dieser Trottel oder überhörte die Brechungen, weil er den Komponisten für seine Propaganda brauchte.
Erfreulich ist, dass die Musikbeispiele in ausreichender Länge abgespielt werden, um die Produkte dieses liebenswerten, verängstigten, von Schicksalsschlägen und Krankheiten geplagten Menschen, wenn nicht zu verstehen, so doch zumindest kennenzulernen. In jedem Falle macht diese Hörbiographie neugierig auf mehr Schostakowitsch, gerade denjenigen, die sich ihm noch nicht so intensiv genähert haben. Erfreulich für Kenner seiner Musik ist, dass Gustav Mahler als gleichsam musikalisch großem Bruder ein gebührender Platz eingeräumt wird. Da trafen sich zeitlich versetzt zwei verwandte Seelen.
Diejenigen, die Schostakowitsch lieben, fragen sich oft, ob er wohl unter anderen, freieren Umständen solch eine Musik hätte schaffen können. Die Frage ist berechtigt, aber man möchte jedem unterdrückten Menschen lieber ein glückliches Leben wünschen, als im Terror existieren zu müssen, komme dabei auch noch so erstklassige Kunst heraus. Sicher hätte sich Dmitrij Schostakowitsch noch eingehender der leichten Muse gewidmet, der zu dienen alles andere als leicht ist. Es ist in der Kunst immer schwieriger, lustig als ernst zu sein, schaffend oder reproduzierend.
Trotz aller Repressionen hat auch Schostakowitsch versucht, das Leben in seiner Fülle wahrzunehmen und folgerichtig erfährt man viel über seine Ehen und sonstigen Frauengeschichten.
„Doppeltes Spiel“ ist gerade jetzt so wertvoll, weil Hörerinnen und Hörer sich bewusstmachen können, was es heißt, im Totalitarismus zu überleben, dennoch seine Würde zu bewahren und nicht die Hoffnung auf bessere Zeiten aufzugeben. Unbedingt empfehlenswert!
Dr. Andreas Ströbl, 22. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
4 CDs
BR-KLASSIK 900929. Erhältlich im Handel und im BR-Shop
CD Rezension: Schostakowitsch, Doppeltes Spiel, klassik-begeistert.de
Meine Lieblingsmusik 68: Schostakowitsch, Sinfonie Nr. 4 (1936)