Fotos: Annie Krull, Sammlung Manskopf
von Peter Sommeregger
Die Titelrolle in der Oper „Elektra“ von Richard Strauss gilt seit der Uraufführung 1909 in Dresden als eine der am schwersten zu besetzenden Sopranpartien. Neben den immensen vokalen Anforderungen, die diese Rolle enthält, ist für die rachsüchtige Atridentochter auch schauspielerisches Talent erforderlich, um diese extreme Figur glaubwürdig verkörpern zu können.
Die Wahl des Komponisten Strauss für die Dresdener Uraufführung fiel auf die Sopranistin Annie Krull, die ihn bereits bei der Uraufführung seiner Oper „Feuersnot“, ebenfalls in Dresden, als Diemuth überzeugt hatte. Auch Ernst von Schuch, der Dirigent der Aufführung plädierte für Krull. Einziges Hindernis war Marie Wittich, die erste dramatische Sängerin am Haus, die bereits Strauss’ Salome kreiert hatte. Diese kapitulierte aber schließlich doch am Ende in Anbetracht der strapaziösen Rolle.
Nach der Premiere der „Elektra“ am 29. Januar 1909 an der Dresdner Hofoper war die Kritik des Lobes voll für das Werk, aber auch für die Gestaltung der Annie Krull.
Es sollte der größte Triumph in der Karriere der am 12. Januar 1876 in der Nähe von Rostock geborenen Sängerin bleiben. Krull hatte in Berlin Gesang studiert und debütierte 1898 am Stadttheater von Plauen als Agathe in Webers „Freischütz“. Nachdem der Intendant der Dresdner Hofoper, Graf Seebach, die junge Sängerin gehört hatte, verpflichtete er sie an sein Haus.
Am 22. November 1901 sang sie in der Uraufführung von Strauss’ „Feuersnot“ die Hauptrolle der Diemuth, in den Jahren danach mehrere Uraufführungen von Opern Leo Blechs. 1904 heiratete sie den Bassisten Max Flor.
Nach ihrem Erfolg als Elektra wurde sie zu zahlreichen Gastspielen in dieser Rolle eingeladen. In London sang sie 1910 Salome und Elektra, in den Jahren ab 1904 gastierte Krull in Leipzig, Berlin, München und Stuttgart, auch am Deutschen Theater in Prag und am Opernhaus von Brünn war sie zu hören, nach 1909 auch in Wien. Ihr Repertoire bestand aus den klassischen Rollen des jugendlich-dramatischen Faches, das vor allem die Partien in Wagner-Opern , aber auch den „Fidelio“, die Valentine in den „Hugenotten“ von Meyerbeer und die Martha in d’Alberts „Tiefland“ einschloss.
Ihr Dresdner Engagement endete im Jahr 1910, danach war sie bis 1912 am Hoftheater von Mannheim tätig. Nach 1912 unternahm sie nur noch gelegentliche Gastspiele, ohne ein festes Engagement einzugehen. Die kurze Dauer ihrer Karriere ist ungewöhnlich, da auch nichts über eine stimmliche Krise der Sängerin bekannt ist. Nach dem Ende ihrer Bühnenkarriere lebte sie als Gesangspädagogin in Schwerin, wo sie am
14. Juni 1947 starb.
Gerühmt wurde allgemein die Ausdruckskraft ihrer Stimme und ein eminentes schauspielerisches Talent. Richard Strauss war schon bei den Proben zu „Elektra“ von ihrem Tanz im Finale der Oper fasziniert, den sie aus eigenem Antrieb gestaltete.
Die Stimme Annie Krulls ist in einem komplett auf Odeon-Schallplatten eingespielten 2. Akt von Wagners „Tannhäuser“ in der Rolle der Elisabeth erhalten. Ihre sehr eigenwillige Interpretation der Rolle gibt einen Eindruck von der starken Persönlichkeit Annie Krulls. Die Besetzung der Rolle der Elektra ist bis heute eine schwierige Aufgabe, nicht wenige Sopranistinnen sind an dieser Partie auch gescheitert.
Peter Sommeregger, 10. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.