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GIACOMO PUCCINI, LA BOHÈME
STAATSOPER UNTER DEN LINDEN, BERLIN, 5. JANUAR 2023
MUSIKALISCHE LEITUNG: Massimo Zanetti INSZENIERUNG: Lindy Hume BÜHNENBILD: Dan Potra
KOSTÜME: Carl Friedrich Oberleib
LICHT: Franz Peter David
MIMÌ: Anna Princeva MUSETTA: Evelin Novak RODOLFO: Stefan Pop MARCELLO: Adam Kutny SCHAUNARD: Charles Pachon COLLINE: David Oštrek PARPIGNOL: Krogius BENOÎT, ALCINDORO: Olaf Bär
von Greta Schlotheuber
Ich stehe mit den Freundinnen in der Pause von La Bohème am Orchestergraben und beobachte, tausche mich über die Instrumente aus, bis wir einen Fuß in den Waden spürten, gefolgt von den Worten: „Stehplätze gibt es woanders noch genügend!”… es handelt sich um ein älteres Paar, die ihre Rolle als Erste-Reihe-Sitzende wohl sehr ernst nahmen. Schade, denn, obwohl es uns nicht so sehr tangierte, weil wir uns doch ganz gut auskennen, bereits häufiger in der Oper waren und selbst gemeinsam im Orchester spielen, verschreckt diese Kühle doch jüngere, unerfahrenere Operngängerinnen, die das gesamte Spektakel beobachten wollen, den Silbersee aufmischen und die Zukunft für diese Kulturform bilden.
Nun aber zum Wichtigen: Während alle in den Saal strömen, ihr Plätze suchen, den letzten Blick ins Programmheft werfen, kann man bereits eine Leinwand beobachten, die mit Eisblumen bestrahlt wird… Langsam lässt sich ein kleines Loch erkennen, ein alter Herr sitzt, mit einer Schneekugel in der Hand, in einem Ohrensessel auf der Bühne. Die ersten Szenen lassen sich musikalisch noch schwer einschätzen. Die Künstler Marcello (Adam Kutny), Rodolfo (Stefan Pop), Colline (David Oštrek), Schaunard (Charles Pachon) sowie der Vermieter Benoît (Olaf Bär) – so hatte man das Gefühl – brauchten ein wenig, um ihre volle Leistung zeigen zu können. Die Staatskapelle hingegen war bereits spektakulär, drückte einen von Beginn an in den Sitz, allerdings war es anfangs zu laut, um die Solisten vollständig hören und verstehen zu können.
Auch Mimì (Anna Princeva) muss zu Beginn des ersten Satzes gegen das Orchester ankämpfen, was allerdings früh auffällt: Die schauspielerische Leistung des Paares (Mimì und Rodolfo) wird uns durch den gesamten Abend führen und verzaubern! Im Augenblick ihrer Zweisamkeit gegen Ende des ersten Aktes löst sich das Bühnenbild – die Wohnung der Künstler, die in einem schwarzen Raum steht – auf, die Seitenteile bewegen sich Off-Stage und auch das Paar wird auf dem Boden der Wohnung, der nun wie eine Wolke wirkt, in die Seitenbühne gefahren.
An diesen schwarzen Raum schließt sich der zweite Akt an. Der sehr große Chor sowie der Kinderchor beeindrucken an dynamischen Nuancen und Ausdruck. Das Bühnenbild verlangt dem Publikum in diesem Akt viel ab, zuerst befinden wir uns in einem dunklen Raum mit Girlanden und Schneeflocken, mithilfe einer großen Zwischenwand gelangen wir ins Café Momus, einem schicken Raum mit mehreren gedeckten Tischen, einer großen Theke und vielen gut gekleideten Menschen. Auch wenn Hume hier sehr anschaulich, detailliert und ein wenig plakativ gearbeitet hat, trifft das Bühnenbild meiner Meinung nach den Spagat zwischen zu kitschig und zu wenig. Mit einem hohen Lacher betritt Musetta (Evelin Novak) den Raum und nimmt diesen auch ein. Beeindruckend stellt sie ihre doch divenhafte Rolle dar und überzeugt schauspielerisch wie auch gesanglich den gesamten Abend.
Der dritte Akt spielt – so scheint es – in einer Bahnhofshalle (eigentlich in einem Cabaret), am Stadtrand, in der Marcello arbeitet. Was schnell ins Auge springt: der Mann mit der Schneekugel sitzt dort, zusammen mit ein paar anderen Menschen, die nach und nach den Raum verlassen. Besonders berührend ist das Quartett am Ende des Aktes zwischen den beiden Paaren, in dem Mimì und Rodolfo ganz nah aneinander, Musetta und Marcello mit viel Abstand platziert sind. Obwohl es hier zwischen den Solistinnen und dem Orchester manchmal wackelt, ist diese Szene sehr emotional.
Der von Trauer und Dramatik durchzogene vierte Akt beginnt ganz farbenfroh auf dem Dach der Künstlerwohnung. Schnell wird klar, dass dies sich ändert, die Bühne dreht sich und die Wohnung scheint karger und verwüsteter als zuvor im ersten Akt. Unverkennbar ist Mimìs Zustand, den Anna Princeva hervorragend verkörpert. Aber auch die restlichen Künstler sowie Musetta unterstützen die Stimmung mit ihrer schauspielerischen Leistung. Vor allem muss aber hier der Rumäne Stefan Pop als Rodolfo hervorgehoben werden, der Heldentenor zeigt sich ganz zerbrechlich und angreifbar. Spätestens bei den letzten Mimì-Rufen ist es um einen geschehen. Am Ende steht noch der alte Herr mit der Schneekugel reglos in der Ecke, es handelt sich hierbei, und das musste ich recherchieren, um den alten Rodolfo, der auf sein Leben zurückschaut.
Beeindruckt war ich von der Staatskapelle Berlin unter Massimo Zanetti, die in allen Stimmgruppen aber ganz besonders im warmen Blechsatz überzeugt hat. Bei der sehr zugänglichen Inszenierung handelt es sich um keine Neuerfindung, Lindy Hume hebt demonstrativ die Kontraste der verschiedenen Spielorte hervor, das gibt den Zuschauerinnen die Möglichkeit zu beobachten und sich auf die Musik zu konzentrieren. Einzig den alten Herrn habe ich leider lediglich durch eine Recherche verstanden. Musikalisch hat mich Evelin Novak als Musetta beeindruckt, sowohl schauspielerisch, aber vor allem auch gesanglich hat sie den Spielraum zwischen Dramatik, Sorge und Trauer ausgeschöpft. Darstellerisch haben mich Anna Princeva und Stefan Pop berührt und überzeugt, spätestens, als sie auch noch beim Applaus in den Emotionen des Schlusses steckten, hatte wahrscheinlich jeder im Publikum eine Träne im Auge. Nicht gefielen mir das eher schnelle und große Vibrato von Anna Princeva sowie die etwas plakativen Weihnachtsmützen einiger Künstler im ersten Akt.
Greta Schlotheuber, 11. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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