Weli Muhadow, Quelle: spotify.com
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Heldentum ist eines der Themen, die seit jeher kulturübergreifend Menschen bewegen. Ob nun überragend, fast übermenschlich, tragisch, gebrochen oder sogar komisch… Mittlerweile erfreuen wir uns an so mannigfaltigen Heldengestalten, dass wir teilweise schon dazu neigen, sie in einem irritierenden „Dekonstruktions“-Prozess zu entzaubern. Eine Tendenz, die sich auch musikalisch zeigt, obwohl wir hier so reichhaltige Beispiele für edles, heroisches Heldentum haben, zu dem man aufblicken kann. In dem Zusammenhang lassen sich Werke von Mozart über Beethoven, Wagner, Mahler, Strauss nennen… die Liste ließe sich beliebig fortführen. Aber wie wurde Heldentum von Komponisten mit anderen kulturellen Hintergründen dargestellt? Dieser Beitrag soll jene Liste um den turkmenischen und in Deutschland nahezu unbekannten Komponisten Weli Muhadow und sein Bild des Heroischen ergänzen.
Dabei sei vorab gewarnt: Weli Muhadow (1916 – 2005, eigentlich „Welimuhammet Muhadow“, je nach Quelle auch „Veli Mukhato“) ist kein unbeschriebenes Blatt. Als Bürger der Sowjetunion und Mitbegründer turkmenischer Nationalmusik innerhalb dieses Staatenbunds kommt ihm als zweifachen Gewinner des Stalinpreises und Volkskünstler der UdSSR von 1965 eine Schlüsselposition in einem System zu, das bis heute zerstörerische Schatten auf Osteuropa wirft. Warum er heutzutage nicht in Zentraleuropa gespielt wird, ist also ein Stück weit selbsterklärend.
Ich als Verfasser möchte dementsprechend klarstellen, dass ein Beitrag über einen solchen Komponisten keine Glorifizierung eines solchen menschenverachtenden Systems sein soll. Denn obwohl Muhadow erst 2005 im Alter von 88 Jahren verstorben ist und dementsprechend noch lange nach Untergang der Sowjetunion gelebt hat, sind mir zu ihm keine kritischen Aussagen oder Quellen bekannt, wie es beispielsweise bei Schostakowitsch der Fall ist.
Stattdessen soll dies die Betrachtung einer Komposition sein, die aus sich heraus beeindruckt und einen eigenen Blick auf das Thema Heroismus wirft. Denn allem historischen Beigeschmack zum Trotze ist Muhadows zweite Sinfonie mit dem sperrigen Untertitel „In Erinnerung an die Helden, die im Zweiten Weltkrieg starben“ ein Werk voller Energie, in sich gekehrter Kraft und stoischer Größe. Ich scheue mich jedenfalls nicht, von einer besonderen Aura zu sprechen. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass diese 1980 geschriebene Musik im Abstand von 35 Jahren zum Zweiten Weltkrieg entstand. Ist das also wirklich Kriegsmusik? Oder wird hier der Zweite Weltkrieg als Vorwand verwendet, um etwas Anderes auszudrücken?
Der erste Satz beinhaltet jedenfalls „grenzenloses Pathos“. Das mag man im Entstehungskontext so oder so verstehen. Fest steht, dass diese Musik dadurch enorme Strahlkraft entfaltet, die Muhadow durch die charmante Verwebung orientalistisch anmutender Klangfarben und voller Orchesterexplosion erzeugt. Dabei hat der erste Satz nur ein Thema. Er mutet schon fast episodisch an mit der schalmeihaften Holzbläsermelodie zur Bordunquinte, bei der man nie ganz sicher ist, ob nun Klarinette, Fagott oder beide gemeinsam den Ton angeben. Auch die Soli zur Mitte des Satzes von Klarinette und Saxophon unterstreichen diesen Eindruck. Ohnehin hat Muhadow diesen Instrumenten mit der in Quarten gefassten Fagottbegleitung eine besondere Stellung in der ganzen Sinfonie zugeteilt.
Diese stehen aber dem stampfenden, von Trommel und Bläserstößen durchzogenen Streichertraben des Hauptmotivs gegenüber. Wie eine Sturmwelle nach der anderen, die allesamt an eine Felswand krachen und sie dabei zermürben. Dazu unermüdliches Antreiben der Trompetensignale, die erst in den letzten Takten des Satzes in voller Akkordmanier erstrahlen dürfen. Dieses heroische Anstürmen hat zeitweise was von römischer Militärmusik, die sich bis zum Satzende in einem grandiosen Höhepunkt ergießt und damit fast die Apotheose des Finales vorwegnimmt. Dadurch wirkt der ganze Satz erbaulich – heldenhaft könnte man meinen. Aber: Krieg höre ich hier drin nicht. Denn dafür fehlt das Zerstörerische und Bedrohliche.
Gefolgt wird dies vom Klagegesang im zweiten Satz, der lange Zeit nur von den Streichern vorgetragen wird. Häufig mutet die Musik hier einsam und verlassen an – die Stimmführung überlässt Muhadow oft nur einer oder zwei Instrumentenklassen. Zu Anfang beispielsweise erst den Bratschen alleine, dann später im Kanon mit den Violinen. Mit denen bedient er zwar stets die Funktionen von f-Moll, lässt aber immer auf dem Ton C enden. Der dadurch sehr eingeengte Tonraum lässt die darüber hinaus häufig nur in Halbtonschritten voranschreitende Melodie antik klingen, fast schon archaisch. Der Eindruck orientalistisch geprägter Musik ist dementsprechend hier besonders stark. Genauso, wie der Gefühlsausdruck von Sehnsucht und Schmerz, den man so auch fast 1 zu 1 in den späten Sinfonien Schostakowitschs wiederfindet.
Natürlich ist der Vergleich zu Schostakowitsch nicht zufällig. Denn beide Komponisten bezogen sich auf den sozialistischen Realismus als Kunstideal. Insbesondere die Sinfonik erfuhr in diesem Zusammenhang unter Vladimir Karbusickys „4-sätzigen-Dramaturgie“ in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Umdeutung. Demzufolge sind mit Sinfoniesätzen immer Bedeutungen zu verbinden: Die Vergegenwärtigung der ontischen Gegenwart im ersten Satz, die Vergangenheit im zweiten, die individuelle Auseinandersetzung mit der Gegenwart im dritten Satz und schließlich – wenn vorhanden – im Finale eine positive Zukunftsaussicht.
Und Karbusickys 4-sätzige-Dramaturgie lässt sich auf Muhadows heroische Sinfonie perfekt anwenden. Nicht nur im zweiten Satz, den er ähnlich eines Totengesangs auf fahlem mehroktavigen Streicherakkord enden lässt und ihn damit wirklich programmatisch als Trauer über die gefallenen Helden wirken lässt. Auch der dritte Satz, der mit seinem kapriziösen Violinsolo einen freudigen Kontrast dazu bildet, passt ins Schema sozialistischer Realisten. Er ist es dann auch, der an wenigsten heldenhaft wirkt. In geradezu romantischer Manier tänzelt hier erst die Geige zu verträumten Streicherpizzicati umher, bevor dann das ganze Orchester zu einem walzerartigen Tanzrausch einsetzt. Ab und an wird es hier etwas derb, wenn erneut die kleine Trommel und Trompeten dazu einsetzen. Nie aber klingt es vergiftet.
Der gerade einmal 6 Minuten langen „individuellen Auseinandersetzung mit der Gegenwart“ folgt dann im Finale noch einmal ein Aufflammen heroischer Energie. Bereits die Hornfanfaren zu Beginn des Satzes legen hier wieder den Bezug zum eigentlichen Titel. Heraus sticht auch das Oboensolo, das in seiner kadenzierten Gestalt schon etwas von einem Sakralgesang hat, der dann ein festliches Treiben einleitet. Korsakows Scheherazade schwing hier deutlich mit – die stampfenden Streicherrhythmen zu den wilden Trommelhieben und Becken erinnern nur zu sehr an das Hochzeitstreiben im vierten Satz von Korsakows Tondichtung. Im Gegensatz zu Korsakow führt Muhadow jedoch in ein mitreißendes Finale inklusive Glockengeläut und Bläserhymnus. Dies lässt im Bezug zum Titel eigentlich nur den Schluss zulässt, dass Heldentum für ihn auch den triumphalen Sieg beinhaltet.
Zu Muhadows kann man geteilter Meinung sein. Im Hinblick auf den aktuellen Krieg gegen die Ukraine, der immerhin von der aus der Sowjetunion entstandenen Nachfolgemacht ausging, ist es sicher fragwürdig, einem einstigen Prestigekünstler dieser Gewalt so viel Raum zu geben. Und sicherlich war eine solche Musik in so einem System auch willkommenes Material. Andererseits lässt sich in diese Sinfonie aber so viel mehr hineinlegen, als das plumpe Ideal sozialistischer Realisten. Ja, als Formkriterium ist es erkennbar. Aber ist das wirklich nur Propagandamusik? Oder ist der Blick auf das Heroische nicht immer auch ein persönlicher? Kann ein Werk über Heldentum, gespeist von persönlichen Erfahrungen nicht auch ein Zeichen von Identität in einem ansonsten kollektiven Gefüge sein? Wenn ich diese Musik höre, höre ich jedenfalls weder Kommunismus noch Krieg – und das dem Titel zum Trotze.
Fest steht, dass Heroismus als Thema kulturunabhängig und damit unabhängig von persönlichen Hintergründen die Menschen beeinflusst. Musik kann dieses Thema in einen Kontext drängen. Aber nur, wenn wir sie mit entsprechender Bedeutung aufblähen, wie Muhadow es durch den Titel tat. Das zugrungeliegende Heldenbild bleibt dem aber übergeordnet. Und damit bleibt der Begriff des Helden losgelöst von der Person, die ihn benutzt. Die große Chance ist nämlich, dass jeder von uns mit diesem Begriff etwas Anderes verbindet und deshalb auch sein eigenes Bild in diesen Begriff (und damit diese Musik) hineinlegen kann.
Davon abgesehen waren die meisten Komponisten selbst keine Helden – egal, wie persönliche Meinungen dazu lauten. Auch Mozart, Beethoven, Wagner und Mahler nicht. Und am wenigsten Strauss. Zum Heldentum gehört mehr, als Musik darüber zu komponieren; egal, ob sie gesellschaftskritisch oder erhaben, aufbegehrend oder linientreu verfasst ist. Darum halte ich es für legitim, auch Werke aus schwierigen Kontexten zu betrachten und darüber (gerne kritisch!) zu sprechen. Aber Ideologie sollte uns nicht davon abhalten, große Werke und Kunst wertzuschätzen.
Mehr als von Heldengestalten lernen wir von denjenigen, die keine Helden waren. Von den Mitläufern oder denjenigen, die Unrecht still gebilligt haben. Selbst von denjenigen, die bei Katastrophen mitgeholfen haben. Heldenfiguren können uns inspirieren, zu Größerem berufen oder sogar unseren Glauben prägen. Aber die schlechten Beispiele machen uns vor, was wir lernen und verändern müssen, um es selber in einer vergleichbaren Situation besser zu machen. Und das ist womöglich sogar mehr wert, als eine überragende, gegen die Welt ankämpfende Person, die dabei am Ende zwangsläufig untergeht. Denn auch das ist ein Fazit allen Heldentums (das Muhadow ausklammert): Am Ende muss jeder Held sterben.
Daniel Janz, 29. Januar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 12: Paul Hindemith klassik-begeistert.de, 15. Januar 2023
Daniels vergessene Klassiker Nr 11: César Franck klassik-begeistert.de, 1. Januar 2023
Daniels vergessene Klassiker Nr 10: Lili Boulanger – D’un soir triste