Ein ausklingender Strom der Musik endet im: Silentium! 

LEON GURVITCH & ENSEMBLE,  »Silentium«  Elbphilharmonie, 31. März 2023 Uraufführung

Leon Gurvitch & Ensemble nach der Uraufführung von „Silentium“; Foto Patrik Klein

Leon Gurvitch und sein internationales Ensemble setzen ein Zeichen für den Frieden in der Elbphilharmonie

von Patrik Klein

In der Hamburger Musikszene hat er sich seit Jahren zu einer bekannten und erfolgreichen Größe entwickelt: Der Komponist, Pianist, Performer und Dirigent Leon Gurvitch. Vor über 20 Jahren aus seiner Heimat Weißrussland geflohen und in Hamburg ansässig geworden, hat er es im Blut, seine vielseitige Musikalität emotionsgeladen an sein zahlreiches Publikum zu transferieren.

Bei seinen Kompositionen nimmt er seine Zuhörerschaft mit in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Künstlers, der nicht einfach Noten vom Blatt oder auswendig spielt, sondern der die Musik in sich trägt in jeder Faser seines Körpers, in seiner Mimik und seiner gesamten Ausstrahlung. Seine Musik ist lebendig, oft gegensätzlich und voller Kontraste und feinster Nuancen.

Dabei gibt er nicht nur unzählige Solokonzerte auf seinem Instrument, sondern arbeitet häufig mit besonderen Künstlern zusammen, die seine musikalischen Ideen tragen und gemeinsam zu neuen Kunstwerken formen.

Seine neue Komposition Silentium für Piano und Streicher feierte nun in der Elbphilharmonie ihre umjubelte Weltpremiere.

Doch zuvor gab es u.a. Musik aus der geplanten, demnächst erscheinende CD mit dem Titel Musique Mélancolique.

Der sieben Stücke beinhaltende Zyklus Musique Mélancolique, der zentraler Bestandteil dieser geplanten CD ist, entstand während der Pandemie, als das kulturelle Leben stillstand und die Verzweiflung bei vielen Künstlern wuchs. Mit seiner Lieblingszahl sieben begründet Leon Gurvitch auch die Anzahl der Stücke, die trotz der düsteren Aussichten Lebensfreude und Hoffnung ausstrahlen. Aus diesem Zyklus spielte Leon Gurvitch die Stücke eins, fünf und sieben.

Hierbei entwickelten sich oft aus ruhigen oder klassisch anmutenden Klängen mit kleinen Dissonanzen durchwachsene, zum Teil furiose Melodien voller Farben, Stimmungen und Emotionen. Technisch äußerst anspruchsvoll begannen Funken in allen Farben zu sprühen, wie bei einem grandiosen Feuerwerk. Tempoverlangsamungen oder plötzliche Stille setzten Kontraste, die bei jedem Zuhörer individuelle Emotionen erzeugten und zu Herzen gingen.

Im ersten Stück dominierten zunächst Arpeggios die Melodieentwicklung. Traurigkeit und Resignation bestimmte die emotionale Lage. Plötzlich kam jedoch Bewegung auf und es wurde virtuos. Es war, als ob die Musik atmete, denn Einschübe wechselten sich mit der Melodie ab oder wurden miteinander verschachtelt.

Auch das zweite Stück begann langsam und traurig mit klassischen Klängen und Motiven. Es folgten leichte Dissonanzen, aus denen sich eine zauberhafte Melodie entwickelte. Ein furioser Tastenlauf entwickelte sich und variierte die Melodie, bis es sich zu einem Aufschrei steigerte. Der  Puls des Lebens erschien mit all seinen Facetten, bis schließlich plötzlich Stille, Harmonie und der Einklang mit sich selbst zu tiefst berührend eintrat.

Trotz der dunklen und nachdenklichen Gesamtstimmung mündete der Zyklus im letzten Stück in mediterraner Lebensfreude, Verspieltheit und jazzigen Improvisationen.

Es folgte das Stück „Waves“ aus dem Kinofilm „Non- Citizens„, ein Dokumentarfilm von Jordi García Rodríguez. Leon Gurvitch komponierte den Soundtrack zu diesem Film. Die Musik erzählte die Geschichte derer, die in Zentralafrika ums Überleben kämpfen und sollte ihren Hoffnungen und Ängsten eine Stimme verleihen.

Post Scriptum, erneut ein Stück von der geplanten CD, beschrieb den Tod eines lieben Menschen des Komponisten. Es ging um Trauer und Abschied und die gemeinsame  Vergangenheit. Es erklangen Traurigkeit und dunkle Farben in der Melodie, untermalt mit Hoffnung und Freude über das Dagewesene.

Algirdas Šochas und Leon Gurvitch bei Ukrainian Rhapsody; Foto Patrik Klein

Bei Ukrainian Rhapsody kam dann Algirdas Sochas, in Vilnius geborener und in Hamburg lebender litauischer Geiger, zu einem Duett mit Leon Gurvitch erstmals in Deutschland zusammen. In dem technisch äußerst schwierigen, atemberaubend virtuosen Stück, welches ich bereits in den von mir besuchten Proben zum Konzert hören durfte, ging es um die wichtige Rolle der folkloristischen Musik in der Ukraine. Die Unterschiedlichkeit und Vielfalt des Landes mit weitläufigen Wäldern, malerischen Bergen und Tälern, berühmter riesiger Steppe mit fruchtbarem schwarzen Boden und dem das Land teilenden Fluss Dnjepr standen im Fokus dieser aufregenden Komposition, bei der die beiden Musiker ihr besonderes Können an ihren Instrumenten eindrucksvoll bewiesen.

Algirdas Šochas und Leon Gurvitch bei Ukrainian Rhapsody; Foto Patrik Klein

Remember me„, bereits in der Berliner Philharmonie aufgeführt, folgte zum Abschluss des ersten Teils des Konzertes. Das Stück, erstmals zusammen mit allen Streichern, überreichte dem begeisterten Publikum erneut einen Blumenstrauß an Emotionen mit furiosen Variationen und Steigerungen von Tempo und Stimmungen.

Die Welturaufführung von Silentium nach der Pause brachte die Lage und die Stimmung von Künstlern in der Zeitenwende mit Krieg, Elend und Flucht innerhalb Europas zum Tragen. Kontraste in der Musik standen im Zentrum der Komposition: Krieg und Frieden; Traurigkeit und Hoffnung; Schatten und Licht; Ausweglosigkeit und Kampfgeist; Gewalt und Zärtlichkeit; Hass und Liebe.

Das Besondere an dem Projekt war, dass sich die beteiligten Künstler aus Hamburg mit geflüchteten Musikern aus der Ukraine zusammen taten und das Werk zur Uraufführung brachten. Schutzsuchenden Kulturschaffenden aus der Ukraine bekamen somit eine Möglichkeit, sich in der deutschen Musikszene einzubringen.

Unter dem Motto „Musik verbindet“ entstand ein berührendes, facettenreiches Musikstück für Klavier und Streicher, welches 10 internationale, hochkarätige Musiker in der Elbphilharmonie uraufführten.

Leon Gurvitch komponierte ein umfangreiches und komplexes Werk, welches zum ersten Mal zunächst an die Ohren der mitspielenden Musiker bei den an den Tagen zuvor stattgefundenen Proben drang. In minutiöser Detailarbeit wurde dann ein gemeinsames Stück einstudiert, ergänzt, diskutiert und feinste Nuancen abgestimmt.

Kontraste dominierten alles! Nicht bloß hörbar in der Musik, sondern auch in der Kleidung der Musiker, die nach der Pause gemeinsam auftraten. Der Pianist trug ein weißes Hemd. Die Streicher erschienen ganz in Schwarz. Das achtteilige monumentale Werk, das in über drei Jahren Kompositionsarbeit entstand, bediente sich jedoch einer grandiosen Farbpalette eines Malers, der aus dem Vollen schöpfte.

Leon Gurvitch & Ensemble nach der Uraufführung von „Silentium“; Foto Patrik Klein

Harmonien und Disharmonien wechselten, Rhythmen variierten und Lebendigkeit vollzog sich. Da wurden auch mal die Klaviersaiten mit den Händen zum Erklingen gebracht, gezupft oder heftig gerissen, da wurde der Korpus des Streichinstruments beklopft oder die Geigensaiten gezupft. Arpeggios der Geigen durchflochten den Fluss der Musik. Der Pianist spielte und dirigierte sein Ensemble; manchmal sogar gleichzeitig. Pulsierende Aufschwünge tanzten mit aufbrausenden Crescendos, Streicher oder Klavier entwickelten einzeln, parallel oder wechselseitig eine beruhigende Melodie, schwangen sich aber immer wieder in atonal wirkenden Phrasen. Manchmal mischten sich sogar Elemente aus der Minimal Music in das Echo zwischen Klavier und Streichinstrumenten. Ein musikalischer Regenbogen nach dem anderen wurde aufgespannt und nahm jeden Zuhörer mit auf eine gedankliche, faszinierende Reise. Im letzten der acht Teile dominierte dann ein Wirbel an Disharmonien und Klangneuheiten das nahende Finale, der ausklingende Strom der Musik endete im: Silentium!

Leon Gurvitch & Ensemble nach der Uraufführung von „Silentium“; Foto Patrik Klein

Diese musikalisch höchst anspruchsvolle Auseinandersetzen mit der Ungerechtigkeit und dem Wahnsinn des Krieges beendete ein vom Publikum in der ausverkauften Elbphilharmonie frenetisch umjubeltes Konzert.

  1. Teil:

– „Musique Mélancolique“ (Nr. 1, Nr. 5, Nr. 7) Klavierzyklus

– „Waves“ (from the movie „Non-Citizens“)

– „Postscriptum“

– „Ukrainian Rhapsody“ for Violin and Piano (Deutsche Premiere)

– „Remember me“ for Piano and Strings

  1. Teil:

– „Silentium“ for Strings and Piano (8 Parts) (Welt Premiere)

Leon Gurvitch, Klavier

Algirdas Šochas, Violine

André Böttcher, Violine

Olga Mashanskaya, Violine

Liza Kablotskaya, Violine

David Aydiyan, Viola

Vira Ivanidenko, Viola

Emilia Lomakova, 1. Violoncello

Sofiia Frantseva, 2. Violoncello

Kostiantyn Kruhliak, Kontrabass

 

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