Elim Chan © https://www.elimchan.nl
Kölner Philharmonie, 19. Juni 2023
Gürzenich-Orchester Köln
Elim Chan, Dirigentin
Jacques Offenbach – Ouvertüre aus: Orphée aux enfers/Orpheus in der Unterwelt (1858)
Igor Strawinsky – L’Oiseau de feu/Der Feuervogel (1909-10), zweite Konzertsuite für Orchester von 1919
Sergej Rachmaninow – Sinfonische Tänze für Orchester, op. 45 (1940)
von Daniel Janz
Wagen wir einmal das Experiment des vergleichenden Hörens!
Dankenswerter Weise hatte sich das Gürzenich-Orchester Köln darauf eingelassen, dasselbe Abokonzert von zwei klassik-begeistert-Rezensenten begutachten zu lassen. Ein Entgegenkommen, zu dem sich unverständlicherweise andere Orchester in der Domstadt nicht bereit zeigen. Gestern durfte bereits der geschätzte Kollege Dr. Brian Cooper seine Eindrücke vom Konzert am Sonntag mitteilen. Heute folgt nun die Rezension vom Montagskonzert mit demselben Programm, in der Hoffnung die Frage zu beantworten, ob innerhalb von so kurzer Zeit bei gleichbleibendem Programm merkbare Unterschiede feststellbar sind. Das alles auch noch vor dem Hintergrund der besonderen Herausforderung, dass das ursprüngliche Programm wegen einem Krankheitsfall umgestellt werden musste. Wollen wir es also wagen!
Auch heute steht Elim Chan (36) anstelle von Dmitrij Kitajenko am Dirigentenpult und bestimmt damit die Musik. Also auch heute – anstatt Schostakowitschs Fünfter werden es Offenbach und Strawinsky. Nur Rachmaninow bleibt erhalten – allerdings nicht mit einem Klavierkonzert, sondern mit seinen Sinfonischen Tänzen. Das mag man bewerten, wie man will. Jedoch wurde Schostakowitschs Fünfte in jüngster Vergangenheit in Köln verhältnismäßig oft gespielt, sodass sie sich in den Augen des Rezensenten inzwischen fast einen Platz in den Anti-Klassikern verdient hätte. Insofern erscheint die Programmänderung heute wie eine Wohltat. Mal davon abgesehen, dass Schostakowitschs Fünfte zwar spannend, aber keines seiner besten Werke ist! Da gibt es beeindruckendere Werke des Sowjetischen Komponisten.
Mit der Programmänderung rückt trotz gleichbleibendem Programmtitel auch ein neues Thema in den Vordergrund. Tänze scheinen es der Dirigentin aus Britisch-Hongkong angetan zu haben. Und womit könnte so ein Tanz-Abend besser beginnen, als mit einem der Tanzklassiker schlechthin? Die Ouvertüre zu Offenbachs Oper „Orpheus in der Unterwelt“ vereint alles, was gute Unterhaltungsmusik braucht. Feurige Rhythmen, sensible Soli und mit dem „galop infernal“ sogar eine jener Melodien, die wegen ihres Ohrwurmcharakters inzwischen regelrecht totgespielt wurden. Frei nach dem Motto „ist das Kitsch, oder kann das weg“, dem man aber mit den Worten aus der Konzerteinführung entgegnen kann: „Kitsch muss genial sein, dann is er wieder gut“.
Aber obwohl dies ein so oft gespielter und beliebter Orchesterklassiker ist, lässt die heutige Aufführung den Rezensenten kalt. Dabei kann nicht einmal richtig ermittelt werden, was die Ursache ist. Die Soli von Klarinette, Oboe und ganz besonders auch dem Solocello sind faszinierend klar und auf ganz hohem Niveau. Aber im Tutti wirkt alles etwas steif. Für Weilen stellt sich der Eindruck ein, hier würde alles nur stur vom Blatt gespielt werden, ohne dass das Dirigat eigene Akzente setzt.
Womöglich tut dieser Eindruck dem Orchester aber auch Unrecht. Denn mittendrin „bereicherte“ Minuten lang der Husten eines einzelnen Gasts die Musik derart, als hätte er den „galop infernal“ mit einem eigenen Husten-Can-Can vorbereiten sollen. Sehr penetrant leider auch das Klicken der Armbanduhr von einer Sitznachbarin zur Rechten, das ständig aufblinkende Handydisplay einer Person in den vorderen Reihen und der stechende Uringeruch – ja, Sie haben richtig gelesen, kein Parfum-, Zigaretten- oder Alkohol- sondern Uringeruch(!) – von der linken Seite der Sitzreihe. Alles Störungen, die – offenbar wie schon am gestrigen Tag – von Herrschaften mit einem geschätzten Alter um die 60 – 70 Jahre ausgingen. Das der Can-Can heute also seine Wirkung verfehlt, mag genauso diesen Personen geschuldet sein. Wie gut, dass es noch freie Plätze gab. Das hätte sonst ein sehr langer Abend werden können…
Ein Hinweis auf die Hochklasse des Orchesters gibt das zweite Werk des Abends. Strawinskys Feuervogel in der Konzertfassung von 1919 ist aber auch ein Diamant unter den Orchesterperlen. Dieses ursprünglich 40 Minuten lange Ballett ist in dieser Version auf knapp 20 Minuten gekürzt, aber nicht weniger eindrucksvoll. Allein der mystische Einstieg, den die Kontrabässe vor sich hin grummeln, ergreift. Erneut kristallisieren sich faszinierende Soli heraus, gerade auch Oboe, Flöte und Fagott glänzen. In flirrenden Klangfarben huscht dann der namensgebende Feuervogel durchs Orchester. Die schlafenden Prinzessinnen, die der Held Iwan letztendlich mit der Feder des Feuervogels befreit, sind an Lieblichkeit kaum zu überbieten. Und als dann noch Magier Kastschej auftritt, bebt der Saal. Toll auch das Finale, in das das erste Horn einleitet und in stetiger Steigerung schließlich das ganze Orchester einstimmt. Für dieses klangliche Gold gibt es im Anschluss auch etliche Bravo-Rufe!
Die Mischung aus individueller Klasse und ganzheitlichem Orchestereinklang kann hier restlos überzeugen. Einzig die persönliche Note des Dirigats fehlt, um es zu einer Weltklasse-Leistung zu küren. Elim Chan kann mit ihrer hochmotivierten Art zwar Aufsehen erregen. Trotzdem hätte ihre reiche Gestik sich gerne noch in mehr Akzentuierung oder Herausarbeiten mancher Details niederschlagen können.
Die Details sind dann auch im letzten Werk das einzige, woran es hapert. Die Symphonischen Tänze von Rachmaninow – das letzte Werk des russischen Aussiedler-Komponisten – gelten gemeinhin auch als seine beste Komposition. Tatsächlich ist dieses gewaltige Stück immer für einen Höhepunkt in jedem Konzert gut. Seine Bekanntheit führt zu verhältnismäßig vielen Aufführungen und trug es sogar schon bis ins Fernsehen.
Der erste Satz gelingt heute Abend recht gut. Erneut sind es vor allem die Soli – diesmal von Klavier und dem phänomenal sensibel spielenden Saxophon –, die begeistern können. Dazu das sehnsuchtsvolle Schmachten im Wechsel zur Dramatik des vollen Orchesterklangs inklusive beeindruckender Steigerung; man merkt, hier wurde viel am Gesamtklang geschliffen. Aber wie schon erwähnt hätten einige Details, wie das Glockenspielsolo am Ende des mit dem Titel „Mittag“ benannten Satzes, hier noch etwas schärfer sein können. Dennoch bedanken sich Teile des Publikums – augenscheinlich wieder vor allem Ältere – mit einem ungalanten Zwischenapplaus.
Elegisch gestaltet sich der zweite Satz. Und hier werden Unterschiede zur Kritik vom Vortag am deutlichsten. Denn während dem Rezensenten vom Sonntag dieser Satz wegen seiner Sensibilität wohl sehr gefiel, gerät er dem heutigen Rezensenten zu trocken. Eher wie ein Vor-sich-Hindümpeln. In der Folge langweilt dieser Teil über weite Strecken. Ein Umstand, den der Rezensent auch schon anders erlebt hat. Da fehlt trotz guter Leistungen von Streichern und Blech einfach der Fokus.
Immerhin belebt das Finale durch den kompositorischen Kontrast. Die Verwebung des Dies irae-Motivs und dem Halleluja aus der orthodoxen Liturgie erscheint in dieser Interpretation sehr tänzerisch, fast triumphal, wie es der ursprüngliche Konzerttitel vorsieht. Neben erneut kräftigem Blech darf man hier gerade auch dem Schlagzeug großes Lob aussprechen. Sie sind auf die Millisekunde auf Zack – sei es bei den belebenden Glockenschlägen am Anfang, den donnernden Trommelstößen, dem fulminant vor sich hin tanzenden Xylophon, dem neckischen Tamburin oder dem erschütternd ausklingenden Tamtam im letzten Takt. Das ist Hörgenuss vom Feinsten und krönt eine in weiten Teilen gute Vorstellung mit leichten Abzügen für ein noch etwas steifes Dirigat. Wohlverdient gibt es dafür tosenden Schlussapplaus.
Man merkt, dass hier viel Talent und Können vereint war. Und die Luft nach oben, die der Rezensent noch beim Dirigat sieht, dürfte sicher auch nur eine Frage der weiteren Erfahrung sein. Es verspricht jedenfalls spannend zu werden, Elim Chan bei ihrem Werdegang zu begleiten. Mit dem Gürzenich-Orchester Köln steht ihr dafür auch ein sehr dankbarer Klangkörper zur Verfügung, denn nicht viele Orchester in diesem Land erreichen so ein hohes Niveau. Das heute hat jedenfalls Lust auf mehr gemacht und auch erneut die Klasse dieses Orchesters demonstriert. Wer weiß also, wie es beim nächsten Mal ausgehen wird? Vielleicht sind die Stehenden Ovationen zum Abschlussapplaus dann ja sogar flächendeckend… wir dürfen gespannt sein.
Daniel Janz, 20. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gürzenich-Orchester Köln, Elim Chan, Dirigentin Kölner Philharmonie, 18. Juni 2023
Jacques Offenbach, Orpheus in der Unterwelt, Komische Oper Berlin, 7. Dezember 2021 (PREMIERE)