Sir John Eliot Gardiner (Foto: Sim Canetty Clarke)
Der britische Staatdirigent John Eliot Gardiner soll einen Sänger geschlagen haben. Nun hat er alle Konzerte abgesagt. Ob er jemals wieder nach Hamburg kommt? Zum Glück war HNS beim bislang letzten des nun In-Verruf-Geratenen in der Elbphilharmonie beiwohnen und den tatsächlich sehr autoritären Doyen beobachten – bei aller Schönheit des Brahms.
Internationales Musikfest Hamburg, Elbphilharmonie, 7. und 8. Mai 2023
Royal Concertgebouw Orchestra
Sir John Eliot Gardiner
Brahms: Sinfonien Nr. 1 & 3
Brahms: Sinfonien Nr. 2 & 4
von Harald Nicolas Stazol
Die Liga des außergewöhnlichen Gentleman
Man will einfach, dass es nicht aufhört, man will nicht, dass es aufhört, nie, nie wieder, dieses traumhafte Dirigat, dieses Traum-Orchester, mit diesem bis zur Vollendung zum Träumerischen getriebenen Brahms, und „Danke!!!“ ruft einer der völlig Begeisterten in die Stille nach der 1. Symphonie folgerichtig, da hat dieser Doyen von einem Dirigenten, die graue Eminenz, Sir John Eliot Gardiner, seinen so unfassbar elegant geführten Taktstock gerade eben sinken lassen, und dieser Zwischenruf bringt es enthusiastisch auf den Punkt:
Die schiere Dankbarkeit, die man diesem Orchester entgegenbringt in ebenjenen Moment, da das Royal Concertgebouw Orchestra ja auch noch nach der Pause dessen 3. bringen wird, so perfekt, dass es einem schier den Atem nimmt.
Einmal ja kommt es fast dazu, zum nimmermehr aufhören, im großen Finale der 4. und letzten Symphonie, da wird, nach dem Bilde eines Bach’schen Chorals die Melodie vielfach variiert, immer erfrischender wiederholt, mal mit Pizzicato, mal mit wunderschönen Soloparts einzelner Instrumente und Instrumentengruppen: Die leise tragende Querflöte hier, noch in der 3., ein Flügelhornsolo der fragilen, blonden Katy Woolley, dort die Celli, ebenso tragend, und ebenso virtuos, und zum Dank dürfen sie dann einzeln und in Grüppchen ganz im Fokus der Scheinwerfer aufstehen, unter den scheinbar nun auch ewig währenden, nun bald stehenden Ovationen des ersten Konzertes am Sonntag abend, viermal wird Sir John auf die Bühne gebeten, fast flehentlich, und nie wieder soll das aufhören, doch, – Erlösung! – da ist ja noch der Montag, an dem das Immerwährende noch zweimal fortdauern wird, zu kurz, ach, zu kurz…
Einmal jedoch droht das große Aufhören, ertönt doch bei einer der leisesten Stellen ein herzhaftes, (natürlich) weibliches Husten, in einem dreimal wiederholten, nicht unschönen Dreiklang, da lässt Sir John drei Takte lang sein Orchester im Raum stehen, und wendet sich präzise-streng und nicht verzeihend den Blick genau und in gewohnter Treffsicherheit in Richtung des Geräusches und der Störerin. Wenn ein Blick donnern könnte, man hörte es förmlich, und so tut es dieser, und es würde nicht wunder nehmen, wenn dieser Jupiter am Pult jetzt einen wohlgezielten Blitz schleudern würde. So sehr fühlt sich der Dirigent gestört, dass man vor dem zweiten Abend von kundiger Hand in einer Art warnenden Einführung demonstrieren wird, wie man sich fast lautlos und im Keime erstickend in die Armbeuge husten kann, und spätestens jetzt haben es alle gecheckt? Man hört solcherlei jedenfalls nicht mehr, traumhaft, einfach traumhaft.
Man schliesst die Augen, denkt noch, wann wird man den Brahms so wieder hören, erinnert sich an Kent Nagano vor kaum zwei Wochen, farblos, kraftlos, seelenlos, des Mitreissens bar – nun, mein verehrter Hamburger Maestro, es geht eben auch ganz anders, ja, hier wird der letztgültige Brahms gegeben, exemplarisch – und so wird man ihn in der Elbphilharmonie nie wieder hören, naja, sagen wir, nicht mehr so oft. Derart einzigartig ist der Abend, sind die beiden Abende.
„Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“, so endet Ludwig Wittgenstein seinen „Tractatus Logico Philosophicus“ – und wahrhaft, ich schweige nun fast, mir fehlen die Worte – aber ich suche, sie zu finden.
Sir John is in da House, samt seinen Homies, dem so über-perfekten Klangkörper aus Amsterdam, die spielen und spielen auf, man dünkt sich in einer über-perfekt abgemischten CD-Aufnahme, und sie verschmelzen mit dem großen, so eleganten Handschlag, den Sir John Eliot Gardiner, in einer Reihe in der großen, englischen Tradition , voller unablässiger Energie zu führen ohne jegliche Ermüdung imstande. Groß, übergroß sind seine bald beschwichtigend, bald anfeuernden Hände, wie ein Marionettenspieler führt er die Seinen, ganz wunderbar – und es scheint, vor ihm sind alle anderen am pult nur effektheischerische Hampler.
Als könne er eben reines Feuer entflammen von seiner hohen Warte – groß sind sie gewachsen, die englischen Normannen – leitet er doch seine Musiker fast von oben herab.
Da ist die erste Geige, die fast den ganzen dritten Part übernimmt, und in den wundervollen Händen der Vesko Eschkenazy ist – und der junge Mann an den vier Pauken, Tomohiro Ando, oder den fünf Kontrabassisten, die den Satz ebenfalls entscheidend tragen, und, kurz, unmerklich fast, zeigt die geballte Faust in das Orchester eine Geste, die man dieser Grauen Eminenz von Dirigenten, erst gar nicht zutraut.
„Vorgestern erst dirigierte Sir John Eliot Gardiner in der Londoner Westminster Abbey – im Rahmen des Krönungsgottesdienstes für King Charles III. Zwei Wochen zuvor hat er selbst Grund zum Feiern, als er seinen 80. Geburtstag zelebriert. Sich selbst und das Hamburger Publikum beschenkt der weltweit verehrte Maestro nun mit einem Zyklus der vier Sinfonien von Johannes Brahms, verteilt auf zwei Abende.“ Hoher, höchster Besuch also, aber das haben alle hier längst begriffen.
»Du hast ja keinen Begriff davon, wie unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört«, klagte Johannes Brahms einmal, da meint er Beethoven, und: Einem von ihnen, dem berühmten Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, kündigt er für den Winter eine neue – eben die 2. Sinfonie an, »so heiter und lieblich, dass Du glaubst, ich hätte sie extra für Dich geschrieben. Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, der Wörthersee ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten.«
Und dann lässt dieser phänomenale Sir John Eliot Gardiner seinen baton sinken, ein letztes Mal, und das Orchesterwerk endet, das Concertgebouw auch, und nun endet das Ganze nun doch, grausam und unerbittlich unerbittlich – und hinterlässt einen schmerzlichen, kaum zu ertragenden, nun leider doch traurig endgültigen Verlust.
Harald Nicolas Stazol, 29. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Berliner Philharmoniker, Sir John Eliot Gardiner Dirigent, Philharmonie Berlin, 17. März 2022