„Boris Godunow“, Ensembleszene © Brinkhoff / Mögenburg
„Boris Godunow“ von Modest P. Mussorgsky
zur Eröffnung der neuen Spielzeit der
Hamburger Staatsoper am 16. September 2023
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Regie: Frank Castorf
Bühne: Alexander Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
von Jolanta Łada-Zielke
An diesem sonnigen Septembernachmittag entschlossen sich viele Hamburger Musikliebhaber, an der Eröffnung der neuen Spielzeit in der Staatsoper teilzunehmen und die neue Inszenierung von Mussorgskys „Boris Godunow“ zu sehen. Dies ist die achte Inszenierung dieser Oper in Hamburg, die erste fand 1924 statt. Die Eröffnungspremiere fing um 18:00 Uhr an, und zwei Stunden später konnte man ihre Übertragung auf einer Kino-Leinwand am Jungfernstieg sehen.
Dies war möglich dank der Zusammenarbeit der Staatsoper Hamburg mit der Leitung des Binnenalster Filmfestes, dem Filmfest Hamburg, dem City Management Hamburg und dem „Verein lebendiger Jungfernstieg“. Ein großer Teil des Publikums hörte den interessanten Einführungsvortrag von Patric Seibert, der als Dramaturg an dieser Inszenierung tätig ist.
Ich finde es richtig, dass man trotz des anhaltenden Krieges in der Ukraine die russische Musikliteratur wieder aufgreift. „Boris Godunow“ beruht auf historischen Tatsachen, ist aber gleichzeitig eine Warnung davor, wohin ein rücksichtsloser Kampf um die Macht führen kann.
Nach dem Tod des russischen Zars Fjodor I. im Jahre 1598 übernimmt sein Schwager Boris Godunow die Herrschaft des Landes. Er gerät jedoch in den Verdacht, die Vergiftung des rechtmäßigen Thronfolgers, damals achtjährigen Zarewitsch Dmitri, angeordnet zu haben. Der Staat versinkt in eine Krise, die man in der Geschichte „Smuta“ oder „Zeit der Wirren“ nennt. Boris hat viele Gegner unter den Bojaren (russische Adeligen). Die Nachbarstaaten, darunter Polen, wollen die Schwäche Moskaus ausnutzen und ihren Kandidaten auf den Thron setzen. Einer von ihnen ist der angeblich gerettete Zarewitsch Dmitri, in Wirklichkeit der Mönch Grigorij.
Die polnische Aristokratin Marina Mnischek, in die er sich verliebt hat, zwingt ihn zu dem Versuch, die Krone der russischen Zaren zu erobern. Der falsche Dmitri gewinnt Anhänger unter den Bojaren, die Boris Godunow nicht wohlgesonnen sind, obwohl der zaristische Geheimdienst „Opritschina“ ständig nach Rebellen sucht. Doch am Ende stirbt Boris Godunow an seinen eigenen Gewissensbissen.
Frank Castorf wendet die russische und sowjetische Symbolik treffend an. Auf der Bühne sehen wir das einfache Innere eines Militärschiffs und im Vordergrund eine farbenfrohe orthodoxe Kirche. Diese Gegenüberstellung veranschaulicht das ständige Aufeinanderprallen von Fortschrittsbestrebungen und der Bewahrung des traditionellen Sakralen dieses Landes. Der Regisseur unterstreicht dies noch stärker im dritten Akt, in dem ein Plakat mit der Silhouette von Juri Gagarin und der Aufschrift „Es gibt keinen Gott“ erscheint. Die sowjetischen Behörden nutzten den Bericht des Kosmonauten über seine Expedition in den Weltraum als Argument gegen die Existenz Gottes, weil Gagarin erzählte, dass er Gott dort nicht getroffen hatte. Unmittelbar danach taucht auf der Bühne eine Prozession von Bojaren und Vertretern des Volkes mit Wimpeln auf, die Ikonen mit Bildern der Madonna und des Kindes darstellen.
In Hamburg sehen wir die erste Fassung der Oper, mit episodischen Frauenrollen, die der Komponist erst in der zweiten Version erweiterte. Deshalb spielen die Szenen zwischen dem falschen Dmitri, Marina und dem begleitenden Jesuiten Rangoni in Polen als eine stumme Filmprojektion mit Untertiteln. Die Symbole des polnischen Widerstands gegen den Kommunismus unterstärken diese Verschwörung: ein Porträt von Papst Johannes Paul II. und Flugblätter mit der Aufschrift „Solidarność“, die Rangoni herumwirft. In den im Kreml gespielten Fragmenten tragen Boris und sein Sohn Fjodor die Uniformen von Offizieren der Roten Armee. Am Ende erscheint eins der wichtigsten Symbole der Perestroika: eine riesige, von Eiswürfeln umgebene Coca-Cola-Flasche.
Die Besprechung der musikalischen Seite beginne ich diesmal mit dem Opernchor, der ein großes Lob verdient. Eberhard Friedrich hat es geschafft, sein Ensemble so vorzubereiten, dass sie Mussorgskys Musik auf eine Art und Weise singen, die die Russen mit dem Wort „душещипа́тельный“, wörtlich „seelendurchdringend“ bezeichnen. Ihr Piano ist weich und sanft, und Forte donnernd. Ebenso überzeugend und im Einklang mit der slawischen Mentalität singt der Kinderchor.
Ich bin gegen die Klischees, dass Slawen die slawischen, und Deutsche die deutschen Opern am besten singen können, gebe aber zu, dass in diesem Fall die Besetzung absolut richtig war. Die Partie von Boris Godunow erfordert eine große, kräftige Stimme eines Sängers, der sich nicht an den zischenden Konsonanten der russischen Sprache stört. Der ukrainische Bass Alexander Tsymbalyuk ist hier perfekt. Die Sterbeszene, in der er seinem Sohn Fjodor die letzten Ratschläge gibt, spielt er sehr berührend. Er verleiht seinem Gesang verschiedene Gefühlsnuancen, von Schmerzensschreien bis hin zu einem hilflosen Seufzer. Sein Landsmann und Kollege Vitalij Kowaljow lieferte in der Rolle des Pimen eine großartige Gesangs- und Schauspielleistung ab. Der Tenor Matthias Klink schuf als Fürst Schuiskij eine äußerst interessante und düstere Figur. Stimmlich ausdrucksstark und schauspielerisch überzeugend ist auch der Tenor Dovlet Nurgeldiyev als Grigorij.
Die Damen hatten in dieser Oper nicht viel zu singen, aber die Sopranistin Olivia Boen als Xenia, sowie zwei hervorragende Mezzosopranistinnen: Kady Evanyshyn (Fjodor) und Marta Świderska (Schenkwirtin) zeigten sich in ihren kleinen Partien von der besten Seite. Neben Marta Świderska gehören zur Besetzung auch zwei andere Polen, die interessante Rollen schufen: Hubert Kowalczyk als Geheimdienstoffizier und Mateusz Ługowski als Leibbojar. Tenor Florian Panzieri als Gottesnarr, der seine Partie überzeugend und bewegend singt, erhielt großen Applaus. Das alles geschieht unter der souveränen Leitung von Kent Nagano und dem klangreichen Philharmonischen Orchester Hamburg.
Große Anerkennung verdient auch die Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki, die eine ganze Reihe historischer und zeitgenössischer Typen kreierte. Bojaren in prächtigen Gewänden, orthodoxe Mönche und Soldaten sind von Kopf bis Fuß traditionell gekleidet. Fürst Schuiskij im Bärenfell sieht interessant und bedrohlich aus. Der Gottesnarr tritt als Transvestit auf, die Geheimdienstler als „traurige Männer im Anzug“, und einige Chorsängerinnen ähneln im dritten Akt Frida Kahlo. Diese farbenfrohe, symbolträchtige und seelendurchdringende Produktion ist auf jeden Fall sehenswert.
Jolanta Łada-Zielke, 17. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Boris Godunow, Oper von Modest P. Mussorgski Staatsoper Hamburg, 16. September 2023 PREMIERE
Blu-ray-Rezension: Mussorgsky, Boris Godunow klassik-begeistert.de, 1. August 2023