Das Rheingold, ROH © Monika Rittershaus
Ein ursprünglicher Frevel an der Natur führt zum Weltenbrand. Kommt uns das nicht bekannt vor? Natürlich ist Richard Wagners Operntetralogie „Der Ring des Nibelungen“ unvergänglich. Doch wie aktuell ist diese „Weltgeschichte aus der Sage“? Sollten wir sie überhaupt auf unsere Zeit beziehen? Der Ring-Auftakt des Regisseurs Barrie Kosky stellt sich mit seinem unvergesslichen „Rheingold“ in London diesen Fragen und zeigt, wie unsterblich das Musiktheater ist.
Richard Wagner: Das Rheingold
Vorabend des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“
Musik und Dichtung vom Komponisten
Antonio Pappano, Dirigent
Orchestra of the Royal Opera House
Barrie Kosky, Regie
Royal Opera House, 29. September 2023
von Leander Bull
Es ist die Urgöttin Erda, die zu Beginn die Bühne betritt, noch bevor ein Ton aus dem Orchestergraben erklingt. Währenddessen ist es im Royal Opera House in London so still, dass man meint, das pochende Herz der Sitznachbarn hören zu können. Die nackte Muttergöttin blickt einsam auf die karge Bühne. Ein riesiger, verdorrter Baum füllt den dunklen Raum. Träumt sie? Ist sie entsetzt? Schon erklingt das tiefe Es der Kontrabässe aus dem Graben. Bedrohlich, doch wunderschön schwillt der erste Akkord an.
Behutsam und langsam führt Antonio Pappano das Orchester des Royal Opera House durch die ersten Takte. Wir hören den Ursprung der Welt, den Anfang allen Lebens. Wieder blicken wir auf den toten Baum. Hat die Welt schon ihr Ende erreicht, oder steht uns das Schlimmste noch bevor? Wir wissen es nicht.
Mit diesem „Rheingold“ beginnt die Reihe der Neuproduktionen von Richard Wagners Weltendrama „Der Ring des Nibelungen“ in London. Barrie Kosky, der zu den gefragtesten und bekanntesten Opernregisseuren weltweit zählt, wurde eigens dafür vom Royal Opera House engagiert. Über Jahre hinweg werden die Opern ihre Premieren feiern. Mit diesem ambitionierten Projekt steht dem Haus in Covent Garden Einiges bevor. Obwohl heute der Untergang der Opernkunst immer öfter beschworen wird, zeigt sich Regisseur Kosky hingegen zuversichtlich: das Musiktheater wird nicht aussterben. Unverblümt wie gewohnt sagt er: „Wir essen, wir schlafen, wir scheißen, wir machen Theater“.
Der Tondichter Richard Strauss sah in den Musikdramen Richard Wagners die „höchste Erfüllung der zweitausendjährigen Entwicklung des Theaters“. Es wird schwer sein, an diesem Abend das Royal Opera House zu verlassen, ohne diesen Gedanken zu teilen. Das Klischee, die Oper sei eine Kunstform der Ewig-Gestrigen, bei der Sänger fast regungslos auf einer kitschigen Bühne stehen und schmalzig vor sich hin singen, wird hier fulminant untergraben.
Unglaublich dynamisch, lebendig und spannend erzählt Kosky die Geschichte rund um den Konflikt zwischen Macht und Liebe, Freiheit und Natur, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Zunächst fällt dies jedoch nicht inszenatorisch, sondern musikalisch auf. Noch schroffer als gewohnt erklingen die ersten Worte Alberichs. Zunächst ist man irritiert darüber, wie unharmonisch das klingt, doch schnell leuchtet das Konzept ein. Musikalisch bewegt sich diese Produktion nämlich nah am Sprechgesang, der in den Wagner-Aufführungen des neunzehnten Jahrhunderts noch wesentlich weiter verbreitet war.
Schließlich ging es dem Zauberer aus Bayreuth stets darum, verständliches Theater zu schaffen. Auch Regisseur Kosky betont immer wieder, „Musiktheater“ zu schaffen, meint, dabei handle es sich nicht um „Oper“. Folglich lösen Kosky und Dirigent Pappano den vermeintlichen Gegensatz von Theater und Oper, zwischen Schauspiel und Gesang auf. Zu erleben ist ein wahres Fest. Das Publikum lacht, zuckt zusammen und ist gebannt. In anderen Worten: Gesamtkunstwerk.
Durchgängig dominiert der apokalyptisch anmutende Baum das Bühnenbild. Es ist die Weltesche, der kosmische Baum, der die Welt verbindet. Das Anliegen der Inszenierung ist klar und opak zugleich. Natürlich weckt das verrußte Geäst als Sinnbild der verstümmelten Natur bestimmte Assoziationen. Alle gieren nach dem Rheingold, das in dieser Produktion wie eine flüssige Ursuppe aus dem Stamm der Esche fließt. In Nibelheim werden Baum und Muttergöttin dann maschinell auf groteske Art und Weise angezapft. Keineswegs jedoch wird dem Publikum eine eindeutige Botschaft aufgezwungen. Es werden mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben – wie gute Kunst es immer tut. Die Szenen wechseln, immer aber ruht der mythische Urbaum rätselhaft inmitten des Geschehens.
Dieses gleichermaßen schlichte und bedeutungsschwangere Bühnenbild untermalt dabei noch einen weiteren wichtigen Aspekt des Werks. Zwar ist es der Nibelung Alberich, der in der ersten Szene dem Rhein das Gold entreißt und sich an der Natur vergeht, doch ist die Welt ist schon lange vorher aus den Fugen geraten. Hat doch der Göttervater Wotan sich aus der Weltesche einen Ast zum Speer gebrochen und die Weltesche schon lange vorher entstellt. Alberich ist gewiss kein Held, doch ist dieser garstige Nibelung wirklich der Antagonist? Kosky wirft genau diese Frage auf, frei nach Brecht: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“
Dieses Rheingold ist unheimlich spielfreudig. Es berauscht, doch ohne zu übertreiben (Stefan Herheim wäre wohl gut beraten, sich dieses britische Understatement zu Gemüte zu führen). Pointiert, klar und einfallsreich entfaltet sich die intrigante Göttergeschichte. Die reduzierte Bühne zeugt hierbei nicht vom einfallslosen Minimalismus, mit dem so viele Operninszenierungen sich heutzutage zufrieden geben, sondern vielmehr von einer Reduktion auf das Wesentliche. Man denke nur einmal an das bis heute beispielhafte griechische Theater, welches Wagner auch vergötterte. Mit teils nichts als Boden und dem Meer dahinter wurden hier die dramatischen Höhen der Antike erreicht. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, sollten Regisseure „einmal alle paar Jahre gezwungen werden, eine Inszenierung ohne alles, nur mit Sängern“ zu machen, sagte Kosky dieses Jahr bei seinem Regieportrait in Wien. Der Regisseur würde den Test zweifelsfrei bestehen.
Auch den Fehler, bereits zu Beginn eines Rings alle inszenatorischen Karten auf den Tisch zu legen, macht diese Produktion glücklicher Weise nicht. Kosky scheut es gleichermaßen nicht, zeitgenössische Elemente auf die Bühne zu bringen. Die rauen Riesen Fasolt und Fafner nutzen Pistolen, Wotan und die feige Götterschar treten aristokratisch mit Poloschlägern auf. Dass der Ring auch eine Parabel rund um Gesellschaft und Revolution ist, möchte wohl niemand bezweifeln.
Das Ganze dient dabei aber keiner billigen Aktualisierung, verliert nie seinen mythischen Zauber, sondern öffnet schlichtweg neue Assoziationsräume. Mythos, so schrieb es Hans Blumenberg, zeichne sich nicht durch eine Zeitlosigkeit aus, bei der bestimmte Inhalte in „zeitliche Ferne gerückt und in die Tiefe der Vergangenheit“ zurückgelegt werden, sondern vielmehr durch einen zeitlichen Widerstand, eine unvergängliche Beständigkeit. Kosky ist gewiss – und zum Glück – keiner der Regisseure, der wie Valentin Schwarz meint, den Ring als Netflixserie inszenieren zu müssen. Dennoch bleibt die Produktion stets zugänglich und modern. Koskys und Wagners Mythos kennt keinen Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Schmerzlich vermisst man diesen Spagat an so vielen Orten der Opernlandschaft.
Nichts wäre das Ganze jedoch ohne Wagners mythische, verzwickte Musik. Intrinsisch ist sie mit Koskys Inszenierung verwoben. Die Musiker des Hausorchesters tragen an diesem Abend fast alle gelbe T-Shirts, um – darauf wird man im Foyer höflich hingewiesen – auf ihre seit der Pandemie gesunkene Bezahlung aufmerksam zu machen. Doch nicht nur im Kampf um ihre Arbeiterrechte sind diese Musiker vorbildlich. Musikdirektor Antonio Pappano leitet das Orchester hervorragend mit mäßigen Tempi und meistert dabei diese komplexe Partitur. Alle Leitmotive schillern, ohne dass die Musik dabei seziert wird. Ebenso wird direkt im Vorspiel klar, dass Pappano nicht in die Falle tappt, mit überschwänglichem Pathos und donnerndem Lärm alle Wagner-Klischees zu erfüllen. Vielmehr spannt er einen höchst dynamischen Bogen, der im Orchestergraben in angemessenen Szenen auch mal ordentlich einheizt. Man denke nur an den höllischen Abstieg in die Schmieden Nibelheims.
Sängerisch ist das Ganze zufriedenstellend bis herausragend besetzt, wobei jeder und jede Einzelne ihr Bestes geben. Koskys Musiktheater verlangt unheimlich viel ab. Nachdem die Damen Konradi, Monreal und O’Sullivan die spielerischen Rheintöchter zufriedenstellend, wenn auch mit zu viel Tremolo singen, tritt Christopher Purves als unvergesslicher Alberich auf. Sein theatralisches Sprechen gleitet elegant in die melodischeren Passagen hinüber und offenbart diese Figur in all ihrer Widersprüchlichkeit. Sein Schwur „So verfluch ich die Liebe!“ geht durch Mark und Bein. Anstatt hoffnungslos zu lieben, will sich dieser verzweifelte Alberich Lust durch die Macht des Rings erzwingen.
Christopher Maltmans Wotan könnte zwar etwas vielschichtiger sein, doch er besitzt die stimmliche, kernige Kraft, die ein Heldenbariton benötigt. Als erfahrene Wagner-Sängerin gibt Marina Prudenskaya eine verständlich wütende Fricka, die sich von ihrem Gatten nicht dazu verleiten lässt, zu schrill zu singen. In Sung Sim und Soloman Howard singen Fasolt und Fafner erhaben und schaffen eine Bedrohlichkeit, die sich in einer überraschend brutalen Mordszene bis ins Verstörende steigert. Wiebke Lehmkuhl gibt aus dem Off eine mythische, warme Erda, deren stimmliche Zärtlichkeit wunderbar die einmalig inszenierte Szene ergänzt. Einen Erda-Auftritt, der so geheimnisvoll und rätselhaft berührend ist, sieht man selten. Der heimliche Star ist jedoch klar Sean Panikkar als Loge, dessen aberwitziges Spiel und listiger Gesang diese zwischen den Fächern angesiedelte Partie in all ihrem Zwiespalt beleuchtet.
Zwar beschwört Kostas Smoriginas in der letzten Szene als Donnergott einen prächtigen Regenbogen, dennoch ist es an diesem Abend Barrie Kosky, der zeigt, wo der Hammer hängt. Seine düstere, zum Ende hin schillernde Inszenierung beweist, dass das Musiktheater lebendiger ist, denn je. Sie zeigt, dass der Mythos selbst in der Postmoderne noch immer Weisheit birgt: dass man ihn für die Gegenwart fruchtbar machen kann, ohne den Zeitgeist anzubiedern und ihn billig zu vergegenwärtigen. Dieses Rheingold setzt neue Maßstäbe. Dabei war das erst der Anfang.
Leander Bull, 1. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Buch-Rezension: Barrie Kosky „Und Vorhang auf, Hallo!“ klassik-begeistert.de, 2. Mai 2023