Ricarda Merbeth © Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Elektra, Richard Strauss
Wiener Staatsoper, 9. Dezember 2023
von Jürgen Pathy
Unausgeschlafen zu einer „Elektra“ – ACHTUNG: keine Empfehlung. Während die „Salome“ schon an der Grenze der Tonalität kratzt, hat Richard Strauss bei der ersten Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal alle Grenzen gesprengt. Hysterie, Wahnsinn, Schizophrenie.
Ein extremes Musikerlebnis, das in der Radikalität den einzigen Ausweg findet. Flucht während der Aufführung: unmöglich. Keine Pause, ein Einakter, der knappe zwei Stunden am Nervenkostüm rüttelt. Erst nach rund 30 Minuten die ersten Ruhepole: „Agamemnon, Agamemnon…“, ruft Elektra, „wo bist du?“ Erst da die ersten Gefühle des Wohlwollens, der Wärme aus dem Orchestergraben.
Den hat Alexander Soddy fest im Griff. An der Wiener Staatsoper so etwas wie der neue „Pultstar“ – Bogdan Roščić hat am jungen Briten einen Narren gefressen, das Wiener Publikum auch. Unzählige Vorstellungen innerhalb weniger Monate: Strauss, Verdi und Mozart – das Kernrepertoire der Wiener Staatsoper. Das alles beherrscht der 40-jährige Senkrechtstarter, der vor Roščić in Wien noch ein unbeschriebenes Blatt war. Fehlt nur noch Wagner.
Der folgt mit „Parsifal“ im April, zuvor darf Soddy noch Weihnachten feiern mit „Hänsel und Gretel“ und im Februar die Schweine vom hohen Ross in „Animal Farm“ holen. Eine Neuproduktion des russischen Komponisten Alexander Raskatov, der einen Dreiakter nach George Orwells gleichnamiger Fabel verfasst hat.
Ein Kampf gegen den Graben
Ricarda Merbeths Glück dürfte sich in Grenzen halten. Statt Aušrinė Stundytė, die einer der Lang-Brüder zu Beginn ansagt, darf die Kammersängerin den Abend retten. Über 300 Male habe sie am Haus schon gesungen, erfährt man von dem noch, der gefühlt schon Ewigkeiten als Dramaturg am Haus arbeitet. Applaus von den Rängen.
Danach kämpft Merbeth erstmal mit den gewaltigen Orchesterwogen, die nicht nur Soddy, sondern in erster Linie Strauss wie eine Wand vor ihr aufbäumt. Eine verdammt undankbare Partie, die im Grunde einem riesigen hysterischen Rezitativ gleicht. Irre, wahnsinnig, radikal. Schreie, Schreie und nochmals Schreie, denen man kaum folgen kann, hat Merbeth hier zu gestalten. Dagegen wirkt eine Isolde beinahe wie ein gemächlicher Dampfer, der durch die Südsee kurvt. Notorische Textunverständlichkeit inklusive.
Generell wirft man mit dieser Starbesetzung bei der „Elektra“ Perlen vor die Säue. So beliebt dieses Strausswerk beim Publikum sein mag, so fest es im Repertoire der Wiener Staatsoper verankert ist: Betörende Stimmen, die bei einer Brünnhilde noch auf lyrische Inseln stoßen können – Merbeths Rollengestaltung im Juni war ein Höhepunkt der Saison –, erreichen hier ihre Grenzen. Die benötigt eine „Elektra“ nun wirklich nicht. Donnernde Orkane, die über alles hinwegfegen, hingegen schon. Asmik Grigorian wäre als Elektra bestimmt eine Idealbesetzung.
Deshalb stellt sich die Frage, wozu ein solches Aufgebot an (jugendlich) dramatischen Luxus-Stimmen, die noch einen Funken Grazilität behalten haben, dieser Partitur zum Fraß vorwerfen. Camilla Nylund quält sich als Chrysothemis genauso, obgleich ihre Partie im Vergleich zur Elektra nicht ansatzweise diese Dimensionen erreicht. Ihre anbetungswürdige Stimme, die noch immer ihre Unschuld bewahrt hat – trotz einer Brünnhilde in Zürich –, ist in anderen Partien besser aufgehoben. Außerdem wäre Alexander Soddy gut beraten, das intensiv aufspielende Staatsopernorchester nicht ganz so mächtig zu animieren.
Der Bass hält, was er verspricht
Nach rund 70 Minuten die Erlösung für alle: Strauss glättet zum ersten Mal fortdauernd die Wogen, schwelgt in romantischeren Gefilden. Raum für große Sentimentalität schafft er dennoch nicht. Die Gefahr, vor Rührung in Entzückung zu verfallen wie bei einer „Arabella“, ansatzweise einer „Daphne“ oder „Salome“ – teils gewaltige Spannungen, die in einem ekstatischen Schlussgesang zum Ende ihrer Eruption entgegensteuern –: Fehlanzeige!
Dem Bass hat Strauss hingegen so etwas wie Geschmeidigkeit geschenkt. Mag es vielleicht stimmen, dass Strauss mit den Tenören auf Kriegsfuß stand, den Bässen war er friedvoller gesinnt. Bei Günther Groissböck landet der Orest in butterweichen Händen. Ein geöltes Legato, wie Groissböck meistens gestaltet, voluminös und dennoch nicht zu kraftstrotzend.
Michaela Schuster ist als Klytämnestra die einzige, die neben dem großgewachsenen Niederösterreicher an diesem Abend durchgehend im Einklang mit der Partitur steht. Kämpferisch, herrscherlich, eine Dämonin, der man all das Böse dieser Partie auch abkauft.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 10. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Strauss, Elektra, Wiener Staatsoper, 9. Februar 2020
Lieber Jürgen,
Bei all meinem Respekt für dich und deine Kritiken sehe ich das ein klein wenig anders: Idealer als mit Ricarda Merbeth und Camilla Nylund kann man Elektra und Chrysothemis derzeit nicht besetzen, das hat man auch vorgestern wieder gesehen und vor allem gehört. Der stimmliche Kontrast zwischen Merbeths bissigem und Nylunds eher sanftem, lyrischem Sopran spiegelt quasi originalgetreu den im Mittelpunkt dieser Oper stehenden schwesterlichen Streit wider: Elektra will für Freiheit morden, Chrysothemis ist da eher zurückhaltend und träumt vom bürgerlichen Familienleben. Da hat jemand einfach mal wieder eine absolute Punktlandung in Stimmbesetzung erzielt. Trotz oder gerade wegen der Einspringerin.
Das war ja auch mit Ansage: Ariadne, Isolde und die Götterdämmerung-Brünnhilde korrelieren stimmlich eben stark mit Chrysothemis, die Walküre-Brünnhilde eher mit Elektra.
Groissböck scheint endlich verstanden zu haben, dass es jenseits vom Ochs und ein paar machtbesessenen Königsherrschern noch andere Partien gibt.
Viele Grüße aus Hamburg
Johannes Fischer
Lieber Johannes,
Input immer erwünscht!
„Der stimmliche Kontrast zwischen Merbeths bissigem und Nylunds eher sanftem, lyrischem Sopran spiegelt quasi originalgetreu den im Mittelpunkt dieser Oper stehenden schwesterlichen Streit wider: Elektra will für Freiheit morden, Chrysothemis ist da eher zurückhaltend und träumt vom bürgerlichen Familienleben.“
Das kann oder muss man fast so sehen. Dennoch hatte Merbeth mehr als Mühe gehabt, in den ersten 30 Minuten sich irgendwie Gehör zu verschaffen. Um Nylund bin ich einfach besorgt. Muss man diese anbetungswürdige Stimme diesen Strapazen aussetzen? Anscheinend schon, sonst wäre man als Opernsänger irgendwann am Ende angelangt, ohne Fortschritt. Piotr Beczała meinte mal, dass Operngesang auf einem gewissen Niveau nicht gesund sei.
Liebe Grüße
Jürgen
Lieber Jürgen,
ich kann Dir nur uneingeschränkt zustimmen, auch wenn ich diese Aufführung nicht besucht habe. Ich hörte Merbeth kürzlich aber als Elektra an der Berliner Staatsoper ausgerechnet in der Vorstellung von Waltraud Meiers Abschiedsvorstellung und musste leider zum selben Ergebnis kommen: Merbeth = Fehlbesetzung und mit der Partie überfordert. Auch Camilla Nylund kann ich mir als Chrysothemis nicht so recht vorstellen. Nina Stemme in der Titelpartie wäre wohl die bessere Wahl. Wie ich sehe, hat sie sich Petrenko für seine kommende Osterfestspiel-Elektra schon gesichert.
Liebe Grüße, Kirsten
Liebe Kirsten Liese,
Danke für die „Schützenhilfe“!
Dem Widerspruch, dem Kontrast, den Nylund setzt, dem kann ich zustimmen. Sonst bleibe ich bei der Meinung. Merbeth war zumindest in Wien mit der Partie überfordert. Dass sie zumindest als Einspringerin gerettet hat, ist ihr hoch anzurechnen.
Liebe Grüße
Jürgen Pathy
Ich versteh diese ganze Meckerei nicht!!! Früher hat es Elektra gegeben mit großen Stimmen, man hat sie auch gehört trotz Orchesterwogen. Heute dürfte es offensichtlich keine derartigen Stimmen geben, woran das liegt??? An der Ausbildung??? Das Werk gibt es seit 25. 01.1909, Gott sei Dank unverändert!!! Und ist immer eines der wuchtigsten Werke gewesen und wurde immer toll gesungen (nicht nur von Nilsson und Rysanek). Weder Herr Karl Böhm, noch Herbert von Karajan, oder Christian Thielemann haben das Werk „leiser“ dirigiert.
Also was soll diese Meckerei? Wenn sie das Werk nicht mögen, meiden sie es!!!
Karl Bauer
Asmik Grigorian als Elektra – welch köstlich-absurder Vorschlag bar jeglicher Realität und Sachverstand. Sie hat ja erst vor drei Jahren als Chrysothemis szenisch debütiert. (War gut, mehr auch nicht.) Aber was ist auch von einem Rezensenten zu erwarten, der allen Ernstes behauptet, dass „erst nach rund 30 Minuten die ersten Ruhepole: „Agamemnon, Agamemnon…“, ruft Elektra, „wo bist du?““ kämen….
Ragnar Danneskjoeld (Der Absender traut sich leider nicht, den richtigen Namen zu nennen, AS:)
Lieber Jürgen,
Über Frau Nylund mache ich mir überhaupt keine Sorgen, sie scheint mir gerade mit ihren jüngsten Debüts richtig Spaß am Wagner-Strauss-Fach gefunden zu haben! Außerdem sehe ich es nicht als unsere Aufgabe, uns über die stimmliche Gesundheit der SängerInnen zu sorgen, gerade, wenn sie so sensationell singen. Die werden dafür bezahlt und die Haushaltung der eigenen Stimmkräfte gehört nun mal zu ihren Aufgaben. Jenseits dessen wird eine Brünnhilde kaum weniger strapazierend sein als eine Chrysothemis.
Etwas anders sehe ich das bei Andreas Schager, bei dem frage ich mich immer, wie er mit seiner – teils schwer erträglichen, bei Rollen wie Siegfried dennoch passenden – Lautstärke überhaupt bis zum Ende der Vorstellung, geschweige denn bis ins nächste Jahr oder darüber hinaus, kommen will. Wobei angeblich schon vor 15 Jahren über ihn gesagt wurde „bei der Lautstärke bringt der in 5 Jahren keinen Ton auf mehr auf der Bühne.“ Also: Abwarten. Sollte seine Stimme tatsächlich eines Tages nachgeben und er trotzdem à la Robert Dean Smith weiter singen, ist dann die Zeit zum Meckern.
Viele Grüße
Johannes