Tristan 2024, Dresden, Camilla Nylund, Klaus Florian Vogt © JF
Mit dem jüngsten Dresdner Tristan hat sich Thielemann selbst noch einmal übertroffen. Seit 20 Jahren habe ich keinen so rundum vorzüglichen Tristan mehr erlebt. Vielleicht ist dies mein letzter, einen mittelmäßigen will ich nach diesem jedenfalls nicht mehr erleben.
Richard Wagner
Tristan und Isolde
Libretto vom Komponisten
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Inszenierung und Bühnenbild: Marco Arturo Marelli
Kostüme: Dagmar Niefind-Marelli
Chor: André Kellinghaus
Tristan: Klaus Florian Vogt
Isolde: Camilla Nylund
König Marke: Georg Zeppenfeld
Brangäne: Tanja Ariane Baumgärtner
Kurwenal: Martin Gantner
Melot: Sebastian Wartig
Ein Hirt: Attilio Glaser
Ein Steuermann: Lawson Anderson
Ein junger Seemann: Attilio Glaser
Sächsische Staatskapelle Dresden und Sächsischer Staatsopernchor
Dresden, Semperoper, 3. Februar 2024
von Kirsten Liese
Es ist vielleicht von Vorteil, dass Christian Thielemann den Tristan nicht allzu oft – und schon längere Zeit nicht mehr dirigiert hat.
Dieser Musik kann man sich nicht alle Tage hingeben, andernfalls bestünde wohl die Gefahr, gegen ihre narkotische Wirkung resistent zu werden – unvorstellbar bei einem solchen Bekenntnismusiker wie Thielemann, der sich für Wagners Musik verzehrt.
Gefühlt habe ich in meinem Leben etwa 30 Vorstellungen dieser Oper erlebt, aber – wie mir jetzt bewusst wird – die meisten wohl unter Daniel Barenboim. Bei Thielemann gibt meine Erinnerung in den vergangenen 30 Jahren „nur“ drei unterschiedliche Produktionen aus Berlin, Wien und Bayreuth her – oder habe ich eine vergessen?
Der Berliner Tristan in der Deutschen Oper vor 25 Jahren war seitens der Inszenierung von Götz Friedrich der schönste, der Bayreuther von 2015 krankte etwas an der Regie von Katharina Wagner. Der Wiener Tristan ging leider auf der Bühne 2004 an mir vorbei, von ihm kenne ich zumindest aber die treffliche Gesamtaufnahme mit Deborah Voigt und Thomas Moser, die in meinem Regal einen festen Platz direkt neben der Furtwängleraufnahme mit Flagstad und Suthaus hat. Und dennoch: Mit dem jüngsten Dresdner Tristan hat sich Thielemann selbst noch einmal übertroffen.
In der von mir besuchten letzten Vorstellung erreicht der Berliner den absoluten Zenit seiner Tristan-Interpretationen, die hingebungsvolle Einstudierung wirkt, filigran ausziseliert bis ins kleinste Motiv, vollkommen, ist nicht mehr zu überbieten. Dies auch dank der bewährten, zwar recht spartanischen, aber doch ansprechenden Inszenierung von Marco Arturo Marelli, in der König Marke sein darf, was er ist: kein brutaler Kerl wie bei Katharina Wagner, sondern ein Tieftrauriger wie Wotan in der Walküre, wenn nicht gar eine noch traurigere Gestalt, die traurigste unter allen Wagnerfiguren überhaupt.
Mit Georg Zeppenfeld war freilich auch der beste König Marke der Zeit zu erleben. Eine unendliche Einsamkeit, gepaart mit der massiven Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat des Freundes, dem Treusten aller Treuen, drückt sich in seiner großen Szene „Tatest’s du’s wirklich?!“ aus, elegisch umsponnen von der Bassklarinette und in exquisiter Verständlichkeit vorgetragen. Und dann der Schlag in die Magengrube, wenn der Monolog den emotionalen Tiefpunkt erreicht: „Warum mir diese Hölle?“ Da tut sich unter anschwellenden bedrohlichen Tremoli in den tiefen Streichern eine Hölle auf, wie man sie sich gespenstischer nicht ausmalen kann.
Schon vom Vorspiel an ist die große Hingabe von Thielemanns Einstudierung zu spüren. Ihre Schwingung überträgt sich bis zu meiner 13. Reihe im Parkett, die Intensität findet auch ihren Ausdruck in seinen Zeichen. Seine Arme kommen stärker zum Einsatz als gewohnt, erheben sich oft mit Vehemenz und auch an weniger lauten Stellen über den Graben. Vor allem dann natürlich, wenn die Musik in Wallung gerät, vor Erotik glüht, Leidenschaft, Sehnsucht und Verlangen kein Halten mehr kennen, Wonne und Weh einander wechseln.
Christian Thielemann durchlebt dieses „himmlische Weltentrücken“, wie Isolde es nennt, mit jeder einzelnen Faser seines Seins, einer unwiderstehlich starken Emotionalität, der sich wohl niemand entziehen kann. Unabhängig davon, dass er das Musikdrama mittlerweile offenbar sogar auswendig zu dirigieren vermag. (Ich selbst konnte es von meinem Platz aus nicht sehen, aber andere berichteten mir, er hätte in seiner vor ihm liegenden Partitur nicht einmal geblättert)
Und der 64-Jährige zeigt wieder einmal ein untrüglich gutes Gespür bei Besetzungen.
Camilla Nylund ist eine treffliche Isolde. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich das nicht in der Weise erwartet, nachdem ich bei ihren lyrischen Partien oftmals kristalline Schönheit in den Spitzen vermisste. Vor allem im ersten Akt läuft die Finnin zur Hochform auf, singt ihre große Erzählung über die zurückliegenden Geschehnisse um ihren Verlobten, den ermordeten König Morold, ihre ersten Begegnungen mit Tristan, als sie ihn heilte, und ihren Zorn darüber, nun an König Marke verschachert zu werden, mit schlanker Stimmführung, honigfarbenem Timbre und Spitzentönen, die sie fulminant wie Leuchtraketen abfeuert. Im zweiten Akt lässt sie in den Liebesduetten himmlisch schöne Kopftöne hören, das „Mild und leise, wie er lächelt“ im dritten durchlebt sie mit träumerischer Zartheit. Da wird der Liebestod zum Liebestraum.
Auch Klaus Florian Vogt, der Tristan dieser Produktion, hat mich nach anfänglicher Skepsis positiv überrascht. Zugegeben, im dritten Akt wäre mir ein viriler Tristan lieber. An die großen Heldentenöre vergangener Tage wie Suthaus, Windgassen, Vickers, Kollo oder Wenkoff kommt Vogt mit seiner hellen knabenhaften Stimme nicht ran. Und doch gibt es viele Momente, vor allem im zweiten Akt, wo seine ätherisch-helle Stimme und sein liedhaftes Singen einen ganz eigenen Mehrwert bieten, dies vor allem in den Duetten „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ und „So starben wir, um ungetrennt“, die Thielemann und sein Orchester im dreifachen Pianissimo musizieren – knisternd leise und wie von einer fernen Welt, wozu das Bühnenbild bestens passt, dass die Liebenden in einem, mit einem blau-grün schillernden Gazevorhang verhangenen Kubus vor der realen Außenwelt abschirmt.
Was mir an Vogt ebenfalls sehr gefällt, ist seine treffliche Textverständlichkeit, die von einem Sänger mit hoher Stimmlage weitaus schwieriger einzulösen ist als von einem Bariton oder Bass, und sein markantes, unverkennbares Timbre. Schon nach drei Tönen hat man diese Stimme erkannt wie in früheren goldenen Opernzeiten einen Fischer-Dieskau, eine Callas, Schwarzkopf oder Birgit Nilsson. Wer sonst hat das in heutigen Zeiten noch zu bieten?
Sehr gespannt war ich auf Tanja Ariane Baumgartners Brangäne. Über ihre Amme in Wien unter Thielemann hörte ich Überragendes, insofern waren meine Erwartungen sehr hoch, vielleicht zu hoch. Am Anfang erschien mir ihre Stimme noch ein wenig klein und eng, aber ihre Warnrufe „Habet acht“ im zweiten Akt waren dann doch von einer wunderschönen warmen, satten Tongebung, von da an wurde es immer besser. Abgesehen davon, dass sie die Brangäne nebenher als Einspringerin gemeistert hat. Denn eigentlich probt die Mezzosopranistin gerade an einem anderen Stück in Dresden, in Detlef Glanerts Uraufführung „Die Jüdin von Toledo“. Am 10. Februar ist Premiere.
Einen weiteren großen Gänsehautmoment in der letzten Vorstellung bescherte mir das Vorspiel zum dritten Akt, bewegend schwermütig eingeleitet von den tiefen Streichern, aus deren dunklen Wolken dann mehr und mehr die Holzbläser mit ihren Lamenti heraustreten bis hin zu dem Englischhorn-Solo, das dank anrührender, zärtlicher Vortragsweise sogar Dauerhustern für ein paar Minuten ein Schweigen abzwang.
Überhaupt die Bläser: Durch die Bank weg präsentierten sich alle Solisten unter Thielemanns wachsamen Ohren in Hochform, ob nun die Oboe mit ihren zärtlichen Liebesbekundungen, die Klarinette in den Momenten der Hoffnungslosigkeit oder die brillanten, zu Beginn des zweiten Akts vielbeschäftigten Hörner.
Im dritten Akt gefiel mir schließlich auch der Kurwenal von Martin Gantner, in den ersten beiden Akten noch ein wenig eng in der Kehle, deutlich besser, die Stimme wurde nun größer und schlanker. Nur die Phrase „Hier auf den Schultern trug ich dich, die sind breit“, an der Karl Böhm einst mit Eberhard Waechter in einer dokumentierten Probe intensiv arbeitete, hätte er breiter singen dürfen. Aber das ist kaum der Rede wert.
Das, was man an diesem Abend erleben durfte – das Cocktail aus Ekstase, Rausch, Schwermut und Todessehnsucht – war in seiner Intensität einfach einmalig.
Nebenbei gesagt, war es ein schöner Zug der Semperoper, diesen großartigen, emphatisch gefeierten Abend dem unlängst verstorbenen Gerd Uecker, Intendant in Dresden von 2003 bis 2010, zu widmen. Weniger erfreulich war das Verhalten zweier Zuspätkommender, die rücksichtslos ihre Plätze in der Mitte einnehmen wollten und dafür alle anderen Zuschauer der Reihe nötigten, für sie aufzustehen, sie mithin aus der Musik jäh herausrissen.
Immerhin am Ende, nach den berührend leise verklungenen letzten Takten des Liebestods, erwies sich das Publikum dann aber doch als ein sehr dankbares, das der vom Dirigenten eingeforderten Stille minutenlang Raum gab, bevor sich die stehenden Ovationen Bahn brachen.
Seit 20 Jahren habe ich keinen so rundum vorzüglichen Tristan mehr erlebt. Vielleicht ist dies mein letzter, einen mittelmäßigen will ich nach diesem jedenfalls nicht mehr erleben.
Kirsten Liese, 4. Februar, 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Tristan und Isolde Semperoper Dresden, 21. Januar 2024
Tristan und Isolde, Musik und Libretto von Richard Wagner Semperoper Dresden, 21. Januar 2024
Sächsische Staatskapelle Dresden, Thielemann Alte Oper, Frankfurt, 14. September 2023
Schade, dass Sie offenbar den Tristan in München 2021 unter Petrenko nicht erleben durften. Diese zugleich analytische und emotionale, schwerelose und kraftvolle Interpretation durch den für mich besten aller Wagner-Dirigenten spüre ich noch heute geradezu körperlich. Harteros und Kaufmann gaben ihre Rollendebuts mit einer ungeheuren Tiefe und setzten ihre Fähigkeiten von Stimme und Darstellung mit der ihnen eigenen Intelligenz ein.
Nylund wird mit Kaufmann, wie schon 2018 in Boston, diesen Sommer im 2. Akt konzertant zu erleben sein (Gstaad und Baden Baden). Man darf durchaus spekulieren, die beiden szenisch zusammen zu sehen. Dann fehlt es nicht an der Virilität des Tristan; neben der Textverständlichkeit kann dann auch mit Textsicherheit gerechnet werden…
Waltraud Becker
Ich würde schon Herrn Kaufmann gerne einmal als Tristan erleben, Frau Becker, wenn er so fantastisch in Form ist wie zuletzt beim Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker im 1. Akt Walküre. Als ich ihn allerdings als Parsifal – unter Petrenko – in München zur Premiere hörte, war von ihm in der großen Bayerischen Staatsoper wenig zu hören. Petrenko dirigierte gut und solide, aber atmosphärisch war da noch viel Luft nach oben, vor allem an den leisen Stellen. Deshalb hat es mich dann auch nicht allzu stark zu seinem Tristan nach München gedrängt.
Anja Harteros habe ich schon lange nicht mehr gehört. Als Sieglinde unter Thielemann in Salzburg war sie grandios, als ideale Isolde kann ich sie mir nicht so recht vorstellen, aber vielleicht tue ich ihr Unrecht. Eben hat sie ohne Angabe von Gründen ihre ganze Spielzeit ’24 in München gecancelt. Wollen wir hoffen, dass sie nicht schwer erkrankt ist und irgendwann wieder auf die Bühne zurückkehrt.
Ob mir die Inszenierung von Warlikowski gefallen hätte, möchte ich bezweifeln.
Kirsten Liese
Sehr geehrte Frau Liese,
Ihrer enthusiastischen Rückschau des Dresdner Tristan am 3.2. kann ich mich ganz überwiegend anschließen. Thielemanns Dirigat war so unglaublich fesselnd, dass es fast überirdisch zu nennen ist. Das Orchester derart fein und souverän zu führen (bis hin zum Hinknien, um das letzte Quantum an Pianissimo herauszuholen), macht ihm derzeit – und wahrscheinlich auch in mittelbarer Zukunft – niemand nach. Man kann nur hoffen, dass vom Dresdner Tristan eine Aufnahme entstehen wird. Auch die sängerische Besetzung war wohl das Spannendste, was derzeit zu finden ist. Nicht ganz teilen kann ich Ihre Begeisterung für die Holzbläser. Im Vergleich zum 21.01. hatten insb. die Oboen und Klarinetten leider doch arg mit Intonationsproblemen zu kämpfen, die bei einem Orchester von Weltrang wie den Dresdnern nicht vorkommen dürften. Auch das Englischhorn, im Tristan immerhin mit DER Solostelle beschenkt, hätte soviel mehr aus der Möglichkeit machen können. Die Gesamtleistung des Orchesters, insb. dank der phänomenalen Streicher, unterstreicht jedoch versöhnlich den Ruf als Wagners „Wunderharfe“.
Cy Nomann
Lieber Herr Nomann,
was die Holzbläser betrifft, haben wir wohl unterschiedliche Wahrnehmungen. Meine Ohren sind durchaus sehr empfindlich bezüglich der Intonation, gerade auch, weil ich als semi-professionelle Cellistin von den Streichern komme.
Allenfalls bei den Sängern geriet ein, oder zwei Mal ein Ton etwas zu tief, aber das störte nicht die Exzellenz der Aufführung.
Beste Grüße, Kirsten Liese
Es war eine gute Aufführung, keine Frage – von einer Sternstunde kann man aber kaum sprechen. Nylund fehlt in der Mittellage Wärme und in der Tiefe Resonanz, Vogt ist trotz bzw. gerade wegen seiner ätherischen Stimmschönheit fehlbesetzt, sein Tannhäuser-Debüt empfand ich als überzeugender. Thielemanns Dirigat zeichnete sich bei aller Präzision wiederum durch einen gewissen Eigensinn und leider auch Rücksichtslosigkeit gegenüber den Sängern der Titelpartien aus. An die Münchner Produktion vor zweieinhalb Jahren (Kaufmann, Harteros, Petrenko) kam der gestrige Abend jedenfalls nicht heran. Aber ein schöner Abend war es trotzdem.
Zdenek / Wengert
…und so ein wunderbarer Künstler ist seines Postens enthoben, dank der Dummheit und Arroganz der neuen, weiblichen Direktion, ein Skandal, dass so etwas geschehen kann!
Heinz Slunecko
In der Tat ist das ein Skandal, an dem leider auch die Medien ihren Teil haben.
Kurz nachdem das bekannt wurde, hätten alle Journalisten auf der Jahrespressekonferenz in der Semperoper Gelegenheit gehabt, dagegen ihre Stimme zu erheben. Leider war ich die einzige, die sich lautstark empört hat. Dafür wurde mir sogar vom Intendanten Theiler mehrfach das Wort entzogen, und auch daran hat sich niemand gestört, ich bekam keine Verstärkung…
Jetzt weinen alle Krokodilstränen. Zu spät.
Dafür wird Thielemanns Stern bald in Berlin aufgehen.
Kirsten Liese
Ich hatte das große Glück, am 25. Januar diesen einmaligen Tristan erleben zu dürfen. An diesem Abend gab es nicht die geringste Intonationstrübung in den Bläsern, der Englischhorn-Spieler gestaltete seinen Solopart göttlich! Nebenbei: Ich bin selbst ein Leben lang Bläsersolist und habe das sog. „absolute Gehör“.
Prof. Dr. Armin Rosin
Es war mir vergönnt, von 1959 an den Tristan bis jetzt mit mehreren Sängern (z.B. Windgassen), Sängerinnen (z.B. Birgit Nilsson, Martha Mödl), Dirigenten (z.B. H. v.Karajan, Horst Stein) zu erleben.
Zu Thielemanns Dirigat kann ich mich nur dem Kommentar von Ragnar Danneskjoeld anschließen, „es zeichnete sich bei aller Präzision wiederum durch einen gewissen Eigensinn und leider auch Rücksichtslosigkeit gegenüber den Sängern der Titelpartien aus“. …höre ich nur diese Weise, die so wundervoll und leise, Wonne klagend, alles sagend….
Helmut Friedl, Wien