Foto: Hans Jörg Michel (c)
Giuseppe Verdi, Otello,
Hamburgische Staatsoper, 5. Juni 2018
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Schon der Weg in die Staatsoper Hamburg versprach: es wird sehr italienisch. 30 Grad, ein laues Lüftchen, weißer, glatter Straßenbelag rund um die Dammtorstraße strahlt die Hitze des Tages ab, das diffuse Abendlicht erinnert an Florenz, Mailand… Für Rom ist es zu leise. Wir sind in Hamburg, der Stadt der Kaufleute und Kunstmäzene. Die gehen in die Oper. Die teuersten Karten kosten 97 Euro, auch am Dienstag.
Das Parterre ist fast ausverkauft, auch der erste Rang füllt sich langsam. Die oberen Logen bleiben leer. Es ist die siebte Aufführung seit der Premiere im Januar 2018. Es ist die 9. Neuinszenierung seit 1888. Ein Jahr davor, am 5. Februar 1887, wurde „Otello“ in der Mailänder Scala uraufgeführt. Die vergangenen 130 Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Aber davon später mehr.
Das Publikum: 70 Prozent betuchte Rentner und Pensionäre, der Rest: eine Schar Gymnasiasten und Abiturienten, Besucher, hergekarrt mit Reisebussen aus Lübeck, Lüneburg, Lauenburg. Hamburger Speckgürtel. Gehobene Mittelklasse. Die einzige dunkelhäutige Person im Saal ist eine Abiturientin im schneeweißen Kleid mit englischer Spitze. Imposante Erscheinung. Das nenne ich mutige Integration! Die Eltern, beide Ärzte, stammen aus Ghana.
Die zweite Farbige bin ich. Das schwarze Schaf. Politischer Flüchtling aus Polen. Ich lebe mittlerweile länger in Deutschland als in meiner Heimat. Habe einen deutschen Pass. Meine Integration hält sich in Grenzen. Vor allem seit der Flüchtlingsdebatte. Viele Deutsche haben kein Einfühlungsvermögen für Flüchtlinge.
Warum ich das bezüglich der Aufführung von Verdis Spätwerk erwähne? Weil die Inszenierung von Calixto Bieito (Katalonien) mich dazu zwingt. Und nicht nur mich. Das Publikum wird zum Denken gezwungen.
Als der Vorhang hochgeht, trifft uns das grelle Licht der Scheinwerfer. Es entlockt den Damen rechts und links von mir spitze Schreie. Endlich weiß ich, was ein spitzer Schrei bedeutet: keine echte Gefahr, aber man spitzt die Stimme, damit die anderen wissen, dass man sensibel, dünnhäutig und berührt ist. Oder empört. In diesem Falle eher empört.
Die Musik setzt ein, eine Masse Leiber (Chor), mit dem Staub und Dreck des langen Fußmarsches bedeckt, Frauen wie Männer ohne jegliches Gepäck, manche verwundet, manche mit Blut beschmiert, schieben sich Schritt für Schritt Richtung Proszenium. Vor ihnen ein Stacheldrahtverschlag. Hinter ihnen die Scheinwerfer. Ihnen gegenüber: wir. Du und ich. Unsichtbar. Die Hiesigen, die bedrohte bedrohliche Masse. Sie sehen uns nicht. Wir sie schon. Schon lange.
Bis wir uns von dem Schock erholt haben, hat Jago seine Intrige gesponnen, Otello angebissen, Desdemona einen guten Eindruck gemacht; trotzdem: das Unglück hängt in der Luft.
Jetzt zu der Frage, warum 130 Jahre dieser Oper nicht gut getan haben:
Der Plot (Intrige, unglückliche Liebe und Mord) reicht nicht einmal für eine Folge „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Die Epoche des „Opernabends“ mit Speisen und Getränken, Gezank und käuflichem Sex in den Logen, Geschäftemacherei zwischen zwei Gängen und – ab und an – einem Blick auf die Bühne ist passé. Wer will vier Akte, wenn die Arien keine Gassenhauer sind, die Frauen in dreckiger Sportkleidung (Chor) oder unnahbar (Desdemona)? Für solch ein Publikum wurden zwei- bis dreistündige Opern geschrieben.
Die Inszenierung rettete den AbiturientInnen und mir den Abend. Drastisch, brutal, sexistisch aufgeladen, ohne ein Wort aus dem Libretto zu Hilfe nehmen zu können, zeigte sie, was Kriegstraumata mit Kriegshelden macht. Otello (Carlo Ventre), der gefeierte Kriegsherr aus Venedig, obwohl bewundert und beneidet, leidet und weißt nicht warum. Die Liebe seiner makellosen Gattin, Desdemona (man nennt sie Madonna, das will im katholischen Italien schon was heißen…), kann ein Jago mit einer kleinen, an den Haaren herbeigezogenen Lüge sofort zerstören. Gefühle: zerstört, Vertrauen: weg. Die Ehe: im Eimer. Das Unglück naht. In fünf Minuten kommen die Nachrichten.
Die Partie des Jago (Franco Vassallo) ist die längste Nicht-Titelrolle in der ganzen Verdi-Opernproduktion. Länger als Otello. Auch gibt sie dem Sänger mehr dramaturgische Möglichkeiten. Bösewichte sind immer interessant.
In seiner Arie „Ich glaube an einen grausamen Gott“ hört man den – bis heute gefürchteten –Nihilismus. Was darf der Mensch jetzt alles sein, tun und lassen? Wir haben uns bis heute nicht auf eine für alle Erdlinge verbindliche Antwort verständigt. Nicht einmal auf eine allgemeineuropäische Antwort. Das Publikum wusste auch keine. Einziges Moment des Schauderns, des Brückenschlags zwischen 1887 und 2018: Der Jago darf alles. Tut nur Böses. Lässt uns ratlos zurück.
Wir wissen immer noch nicht mit unserer Welt auszukommen. Das hat Folgen. Die Folgen haben Beine, sie machen sich auf dem Weg. Sie schieben sich in unsere Welt. Winseln und klagen, wollen nur eines: überleben. Menschenrechte, verdammt!
Im ersten Akt wird sehr schön gezeigt, wie man das Grauen des Krieges ausblendet: Der grellgelbe Hamburger Hafenkran dient als Schafott für einen anonymen Gefangenen mit einer schwarzen Kapuze und auf den Rücken gebundenen Händen. (Abu Graib, eindeutig). Der Gefangene wird hingerichtet und als Mahnmal am Kran hochgezogen. Hängt dort bis zum Ende der ersten Hälfte der Oper, eine gute Stunde. Was passiert? Gar nix. Unten wandelt Otello und weiß nicht, warum er leidet, es wandelt Desdemona mit schneeweißem Tuch und Blumengebinde im Arm; die anderen tun so, als ob die Leiche nicht da wäre.
Das war für zwei männliche Besucher der Hamburger Inszenierung vom 5. Juni 2018 zu viel. In den Pausenapplaus nach zwei von vier Akten buhten sie hinein. Erst der eine, vor mir, dann der zweite hinter mir. Befragt, was sie denn so an der Inszenierung empörte, gaben beide unabhängig voneinander zu Protokoll: „Na, dieser Mensch da!“ Sie meinten den Gehängten. Auf meinen Einwand, dass in jeder zweiten Tagesschau Tote gezeigt werden, schnaubten sie: „Aber doch nicht in der Oper!“ Die Gattinnen wollten vermitteln und meinten: „Aber gesungen haben sie gut, gespielt auch.“ In der Tat, dem ist nicht zu widersprechen. Für knapp 100 Euro pro Eintritt muss Leistung geliefert werden. Hanseatisch gedacht, gefühlt, gebuht.
Ich bleibe ratlos zurück. Keine italienischen Opern mehr? Nur noch Mozart, politisch korrekt und immer musikalisch im siebten Himmel? Penderecki? Oh Gott, an den ich nicht glaube…
Übrigens, der Untertitel lautet: „Der Moor von Venedig“. Die Gelehrten streiten bis heute, ob es nicht „Maur“, also Moslem, hieß. Verdi benutzte nicht den Originaltext von Shakespeare, sondern die französische Übersetzung von Viktor Hugo.
Teresa Grodzinska, 6. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de