Fotos © Winland 2025
Gioachino Rossini – „La gazza ladra“ – Ouvertüre
Antonín Dvořák – „Rusalka“ – Lied an den Mond
Richard Strauss – „Capriccio“ – Schluss-Szene
Johann Strauss – Tritsch-Tratsch Polka für Chor und Orchester
Johann Strauss – „Blindekuh“ Ouvertüre
Ralph Benatzky – „Casanova“ – Chor der Nonnen
Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 3 – 6. Satz (Auszug)
Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 2 – 5. Satz (Finale ab Choreinsatz)
Johanni van Oostrum, Sopran
Li Nan, Mezzo-Sopran
Chor und Symphony Orchestra of China National Opera
Martin Fischer-Dieskau, musikalische Leitung
Winland Tower Financial District Beijing, 6. Dezember 2025
von Dirk Schauß
Es gibt Konzerte, die wollen gefallen. Und es gibt Konzerte, die wollen etwas sagen. Die 20. Christmas Gala im Winland Tower Financial District Beijing (Peking) ausgerichtet, gehörte eindeutig zur zweiten Kategorie. Schon das Motto „Eternity“ war kein dekoratives Etikett, sondern eine programmatische Ansage. Hier ging es nicht um festliche Wohlfühlmusik, sondern um Zeit, Erinnerung, Übergänge und um das große Versprechen von Erneuerung. Dass ein solches Konzept Risiken birgt, versteht sich von selbst. Umso bemerkenswerter ist, wie geschlossen, bewegend und letztlich überzeugend dieser Abend geriet.
Die Gala, seit 2006 eine feste Größe im kulturellen Kalender von Beijings Financial Street und oft als deren „künstlerische Visitenkarte“ bezeichnet, blickt inzwischen auf eine beachtliche Geschichte zurück. 98 Opern, 21 Instrumentalwerke, zahllose internationale Gäste – eine imposante Bilanz. Und doch wirkte dieser Jubiläumsabend nicht retrospektiv oder selbstzufrieden. Im Gegenteil: Er strahlte eine ungewöhnliche innere Spannung aus, eine Dringlichkeit, die über das rein Festliche hinausging. Vielleicht lag das an der bewussten thematischen Zuspitzung, vielleicht an der musikalischen Dramaturgie, die von der Leichtigkeit Rossinis bis zur metaphysischen Wucht Mahlers reichte, vielleicht auch an der Person des Dirigenten.

Martin Fischer-Dieskau stand am Pult des Orchesters. Ein Name, der verpflichtet, und zwar doppelt. Als Sohn des legendären Dietrich Fischer-Dieskau trägt er nicht nur ein großes Erbe, sondern auch eine klare Haltung zur Musik. Keine Effekthascherei, kein Dirigieren fürs Publikum, sondern ein Arbeiten aus dem inneren Zusammenhang der Werke heraus. Dass er wie so oft auswendig dirigierte, ohne Partitur, war dabei weniger Virtuosenpose als Ausdruck tief verinnerlichter musikalischer Logik. Man spürt bei Fischer-Dieskau jene seltene Qualität, die darin besteht, nicht zwischen Orchester und Publikum zu vermitteln, sondern beide in einen gemeinsamen Klangraum hineinzuführen.
Der Abend begann mit Gioachino Rossinis Ouvertüre zu „La gazza ladra“. Witzig, zündend, rhythmisch präzise – ein Auftakt, der sofort klarmachte: Hier sitzt ein Orchester, das zuhört, reagiert und gestaltet. Fischer-Dieskau hielt die Tempi straff, ließ die Pointen aufblitzen, ohne sie auszureizen, gönnte den Bläsern ihre Momente, ohne das Gleichgewicht zu gefährden. Rossini als Einladung, nicht als Feuerwerk. Das Publikum war sofort da, gefangen von dieser Musik, die sich ihrer eigenen Leichtigkeit so sicher ist.
Mit Antonín Dvořáks „Lied an den Mond“ aus „Rusalka“ änderte sich die Atmosphäre schlagartig. Johanni van Oostrum sang diese berühmte Arie mit viel Seele und einem geschmeidigen, warm geführten Ton. Kein sentimentales Schwelgen, sondern ein ruhiges, inniges Erzählen. Ihre Stimme schwebte über dem fein atmenden Orchester, getragen von einem Dirigat, das ihr Raum ließ und doch nie die Spannung verlor. Van Oostrums Phrasierung vermied jeden Anflug von Routine – man hörte einer Sängerin zu, die den Text nicht nur kannte, sondern durchlebte. Es war einer jener Momente, in denen Zeit tatsächlich stillzustehen scheint, in denen sich Musik und Stille gegenseitig bedingen.
Ein Höhepunkt besonderer Art folgte mit der Schlussszene aus Richard Strauss’ „Capriccio“. Erhaben, aber stets mit jenem feinen Augenzwinkern, das diese Oper so einzigartig macht. Pathos wäre hier leicht gewesen, wurde aber klug vermieden. Stattdessen entstand eine elegante, reflektierte Interpretation, die den Geist des Werks ernst nahm und zugleich lebendig hielt. Die Gräfin steht bekanntlich vor der Wahl zwischen Wort und Ton, zwischen Dichter und Komponist – und Strauss lässt die Frage offen. Van Oostrum gelang es, diese Unentschiedenheit nicht als Schwäche, sondern als Reichtum hörbar zu machen. Ihre Stimme klang klar und präsent, ohne je forciert zu wirken, und sie gestaltete mit einer Intelligenz, die über bloße Schönheit weit hinausging.

Ein überraschend heiteres Zwischenspiel bot Johann Strauss’ „Tritsch-Tratsch-Polka“ in der Fassung für Chor und Orchester. Lustig, gewitzt, aber nie banal. Der Chor hatte sichtlich Freude an dieser musikalischen Klatschparade, und diese Freude sprang über. Das Publikum lachte, nicht über die Musik, sondern mit ihr. Später sollte dieses Stück als Zugabe noch einmal auftauchen, mit augenzwinkernder Erklärung des Dirigenten, der schmunzelnd zugab, dass man ihm diese Wiederholung gleichsam abgenötigt habe. Selten war eine Zugabe so gerechtfertigt, selten eine Wiederholung so willkommen.
Mit der Ouvertüre zu „Blindekuh“, einer selten gespielten Johann Strauss-Rarität, zeigte das Orchester erneut seine Souveränität. Keine Routine, kein Abspulen, sondern echtes Interesse an der musikalischen Substanz. Man hörte, wie die Musiker sich auf diese weniger bekannte Musik einließen, wie sie deren Reiz entdeckten und mitteilten. Ähnliches galt für den Nonnenchor aus Ralph Benatzkys „Casanova“. Entzückend vorgetragen, ohne operettige Süße zu überzuckern, mit jener selbstironischen Leichtigkeit, die Benatzky so meisterhaft beherrschte. Fischer-Dieskau verstand es, selbst solche stilistisch heiklen Stücke organisch in den gesamten Ablauf einzufügen. Nichts wirkte wie Füllmaterial, nichts wie bloße Unterhaltung zwischen den vermeintlich „ernsten“ Werken.
Dieser Bogen spannte sich letztlich auf Mahler zu. Und hier wurde es ernst. Sehr ernst. Ein Auszug aus dem sechsten Satz der dritten Sinfonie erklang mit weitem Atem, ruhig aufgebaut, ohne jede Hast. Man spürte, wie der Dirigent große Bögen denkt, wie er Klang wachsen lässt, nicht drückt. Die Streicher sangen mit einer Innigkeit, die ans Herz ging, die Bläser fügten ihre Farben behutsam hinzu. Diese Musik wirkte nicht monumental, sondern existenziell. Fischer-Dieskau ließ das Orchester blühen und schuf Momente inniger Gestaltung, die tief berührten, weil sie aus dem Innersten der Partitur zu kommen schienen.

Der Übergang zum Finale von Mahlers zweiter Sinfonie war der eigentliche dramaturgische Coup des Abends. Der mystische Choreinsatz „Auferstehn“ kam nicht als Effekt, sondern als notwendige Konsequenz alles zuvor Gehörten. Chor und Orchester der China National Opera wuchsen unter Fischer-Dieskaus befeuernder, zugleich kontrollierter Leitung über sich hinaus. Die beiden Solistinnen, Johanni van Oostrum und Li Nan, fügten sich organisch in das Klangbild ein – keine Diven, die sich in den Vordergrund drängten, sondern Stimmen, die dem Ganzen dienten. Li Nans dunklerer Mezzosopran ergänzte van Oostrums helleren Sopran auf ideale Weise, beide verschmolzen im Duett zu einer Klangeinheit von großer Geschlossenheit.

Der Raum, das Atrium der Winland-Gebäude, verstärkte die vertikale Wucht dieser Musik. Die Architektur wurde zum Mitspieler, zur Resonanzkammer für Mahlers Vision von Auferstehung. Es war überwältigend, ohne überwältigen zu wollen – ein starker, bezwingender Sog der Hoffnung, der niemanden kalt ließ. Mahlers Musik, oft missverstanden als bloßer Ausdruck von Weltschmerz, zeigte hier ihr eigentliches Gesicht: Sie ist Verwandlung, Übergang, die Ahnung einer anderen Möglichkeit.
Im Publikum flossen Tränen. Die emotionale Reaktion war unmittelbar und echt, und sie entstand nicht aus sentimentaler Rührung, sondern aus der Begegnung mit einer Musik, die an die Substanz geht. Diese Mahler-Deutung zielte nicht auf Erlösung als Fernziel, sondern auf Erneuerung im Hier und Jetzt. Sie sprach von Tod und Auferstehung, aber sie tat es nicht abstrakt, sondern als gegenwärtige Erfahrung. In einer Welt, die von Brüchen und Umbrüchen geprägt ist, klang diese Botschaft aktueller denn je.
Dass Fischer-Dieskau ursprünglich keine Zugabe geben wollte, passte zu seiner Haltung. Mahler als Schluss, als absolute Grenze. Nach einer solchen Musik kann, ja darf eigentlich nichts mehr kommen. Und doch ließ er sich umstimmen – mit Humor, mit Strauss, mit Klatsch und Tratsch. Ein menschlicher Ausklang nach metaphysischer Höhe. Vielleicht war genau das die eigentliche Botschaft dieses Abends: Ewigkeit beginnt nicht im Jenseits, sondern im bewussten Erleben des Moments. Auch der profanste Moment, eine heitere Polka etwa, trägt den Funken des Ewigen in sich, wenn er mit ganzer Präsenz erlebt wird.

Diese Winland Christmas Gala war kein leicht konsumierbares Event. Sie forderte Aufmerksamkeit, Offenheit und emotionale Bereitschaft. Aber sie belohnte all das reichlich. Musik als Brücke zwischen Kulturen, Zeiten und Menschen – nicht als Schlagwort, sondern als gelebte Realität. In einer Zeit, in der das Verhältnis zwischen Europa und China nicht immer einfach ist, setzte dieser Abend ein starkes Zeichen. Nicht durch politische Botschaften, sondern durch die universelle Sprache der Musik, die alle Grenzen überwindet, wenn sie so ernst genommen wird, wie es hier geschah.
Ein Abend, der lange nachwirken wird. Ein Abend, der zeigte, was Musik sein kann, wenn sie mehr will als nur gefallen.
Dirk Schauß, 17. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Harbin Symphony Orchestra/Martin Fischer-Dieskau Harbin Concert Hall, 9. Mai 2025
Martin Fischer-Dieskau, Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (3) klassik-begeistert.de