Martin Fischer-Dieskau: "Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt, ist deshalb schon Dirigent" (2)

Martin Fischer-Dieskau: „Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt, ist deshalb schon Dirigent“ (2)

Qualifikation oder Hybris? Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (2)

Foto: Martin Fischer-Dieskau, (c) Buber Doráti Festival

»Es ist die Vergangenheit, die uns vorantreibt und oftmals die Gegenwart, die uns am Weiterkommen hindert« (Hannah Arendt)

Nach dem Abklingen der Pandemie wollen Opernhäuser und Konzertsäle mit neuer Aufmerksamkeit besucht werden. Vielleicht erlaubt die Zäsur in hoffentlich naher Zukunft auch eine gewisse Reflexion über alles, was im Zusammenhang mit Orchestern und deren Leitung bislang unhinterfragt geblieben ist. Immer wieder werden Dirigenten als Dirigenten eingestuft, die es gar nicht sind. »Karrieren« sind als Beweis untauglich.

Diese fünfteilige Betrachtung des Dirigenten Martin Fischer-Dieskau ist weder Pamphlet noch Kollegenschelte. Entworfen ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift möchte sie noch einmal in Erinnerung rufen, dass Dirigieren kein Beruf ist, den man um seiner selbst willen ergreifen kann. Dieser Beruf ist Schimäre und bleibt eine Art Wunschvorstellung von allen Seiten, mit denen er zu tun hat. Das war von Anbeginn dieser Tätigkeit so und macht das hohe Attraktivitätspotential aus, das von ihm ausgeht. Wenn es schwierig ist, dem derart Umschwärmten gerecht zu werden, bleibt doch die Erkenntnis, dass Glanz nicht zum Sparpreis zu haben sein sollte. Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt oder sich stabfrei vor ein Orchester stellt, ist deshalb schon Dirigent. 

Wagen Sie einen im besten Sinn unvoreingenommenen Blick hinter die Kulissen!

TEIL II: SELBST SPIELEN UND KOMPONIEREN

von MARTIN FISCHER-DIESKAU

Dirigieren ist kein Selbstzweck, keine vom Anteil weiterer Mitwirkender isolierbare Einzeldisziplin. Man muss Wege beschritten haben, um dazu zu ›gelangen‹, und zwar von Kindheit an. Wer Klavier spielt oder besser noch Geige, kann das nachvollziehen. Es sind nicht zufällig jene beiden Instrumente, deren Beherrschung den Ausgangspunkt für die Ahnen der Dirigenten früherer Jahrhunderte bildete, lange bevor man das Wort ›Dirigent‹ mit ihnen assoziierte. Bach, Haydn, Mozart und Gluck waren ›Dirigenten‹, die auf Tastatur und Griffbrett gleichermaßen zu Hause waren und sie haben zusätzlich, was sie dirigierten, auch selbst komponiert:

Eine weitere, unübertreffliche Vorbedingung ihrer Ensembleführung. Ohne sich mit Hilfe der beiden genannten Instrumente   ̶  im Idealfall beider, nicht nur eines von beiden   ̶  durch die Literatur gearbeitet zu haben, fehlt die Zulassungsberechtigung zum Dirigentenpult, denn von dort aus soll einer Gruppe von ausgebildeten Instrumentalisten musikalisch der Weg gewiesen werden. Zum Bläser kann man sich nötigenfalls noch als Twen ausbilden lassen, alle Kunstfertigkeiten der Beherrschung eines Blasinstruments müssen nicht schon im Kindesalter erlernt worden sein[1]. Dirigentenanwärter, die sich auf ihre alleinige Ausbildung als Bläser berufen, stehen deshalb nicht auf einer Stufe mit den Geigern oder Pianisten. Es trifft auch keineswegs zu, dass auf die Voraussetzungen in der Beherrschung von Geige und Klavier ohne Weiteres verzichtet werden kann, dass, wie allseits behauptet, ein musikalischer Mensch mit Taktstock in der Hand ohne instrumentale Vorbildung sogleich als Interpret eingestuft werden könnte. Mutet die pianistisch-violinistische Doppeltversiertheit zu reduktionistisch an, mag sie immerhin zum Entweder-Oder eingeschmolzen werden – allzu häufig jedoch spielen Dirigenten überhaupt kein Instrument und negieren somit jede historische Legitimation ihres Berufsstandes.

Der Fächer birgt zweifellos unzählige weitere Qualifikationsformen, die additiv zur Kompetenz des Dirigenten gehören sollten. Obwohl sich Unterschiede im Klangergebnis eines ›Interpreten‹ mit minderer, instrumentaler Ausstattung jederzeit nachweisen ließen, geschieht eben dies nicht, und weit mehr Dirigenten als gemeinhin angenommen agieren ›ohne Führerschein‹, auch wenn die besagte Fähigkeit, selbst zu musizieren, höchstens der Grundklasse entspricht, um im Bild zu bleiben, wie eben angedeutet mit mannigfachen Erweiterungsmöglichkeiten bzw.-Notwendigkeiten. (Mit der Klavierfeindlichkeit der Gründerväter Berlioz und Wagner hat es seine besondere Bewandtnis. Richard Wagner begann früh, seine Dirigiertätigkeit, die er als zunehmend lästig empfand, zu delegieren[2], und Hector Berlioz erhob die eigene Tastenabstinenz zum kompositorischen Prinzip, ohne die er seinen Partituren den Reiz ihrer instrumentalen Farbigkeit schuldig geblieben wäre[3].) In jüngerer Zeit wird gern der Fall Carlos Kleiber ins Feld geführt, der schlecht Klavier gespielt und auch kein weiteres Instrument beherrscht haben soll[4], der als wichtigste Ausnahme, die die Regel bestätigt, allerdings gerade dadurch auf einen Kranz weiterer, geradezu unermesslich komplexer Distinktionsmerkmale der Dirigierkunst verweist.

Was nicht funktioniert, ist, wenn der Entschluß, Karriere zu machen, alle zunächst gefassten guten Vorsätze des Dirigieranwärters von vornherein verblassen lässt und  ̶  angesichts erster, leicht zu erringender Erfolge beim Dirigieren   ̶  jeden Nachweis von zur Orchesterleitung berechtigender Überlegenheit überflüssig erscheinen lässt. Wer hier an die Rolle der Hochschulen erinnert, lässt außer Acht, das eine Fachrichtung »Dirigieren« erst seit den 1920er Jahren Einzug in den Ausbildungskatalog deutscher[5] Institute gehalten hat und in nuce zunächst nicht viel mehr als ein Feigenblatt für ein Fachgebiet darstellte, das sich vor der Hand als weder lehr- noch erlernbar erwiesen hatte. Flüssiges Klavierspiel mag bis heute zu den althergebrachten Zulassungsmodi gehören – die wenigsten Bewerber entsprechen jedoch dieser Anforderung, noch weniger in vielen Fällen ihre Professoren. Worüber zu schweigen wiederum unmöglich ist?

BLENDEN

Hat sich die Haltung zu Werten und Idealen tatsächlich so stark verändert? »Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet, rauscht der Wahrheit tief versteckter Born…«. Schillers Brief zur ästhetischen Erziehung von 1796, über (meines) Großvaters Gymnasialtor in Stein gemeißelt, hat den Anschluss an moderne Pädagogik vielleicht inzwischen verpasst. Kein Konzertbesucher scheint infolgedessen unter dem magnetischen Eindruck des Orchesterrauschs im Zweifel, ob die musikalische Leitung, die er serviert bekommt, diese Kategorie überhaupt erfüllt und – mit der berühmten Prise Salz des phantasie-geprägten Augenblicks – nicht ebenso gut auch von ihm selbst hätte ausgeführt werden können, wenn er das nur lang genug zu Hause vor dem Spiegel ausprobierte. Klangvolle Institutionen und Namen lassen meist alle Zweifel an der grundsätzlichen Achtbarkeit und Echtheit des Erlebten verstummen.

Martin Fischer-Dieskau, (c) Schmidt Artists

»Die angebliche Wichtigkeit des Kulturlebens, deren Schein ungewollt jeder verstärkt, der irgend damit sich befasst, und wäre er noch so kritisch, sabotiert das Bewusstsein des Wesentlichen«[6]. Dabei läge das Wesentliche in der Dirigentenfrage mittlerweile in banaler Nähe: Dressierte Kleinkinder mit Taktstock in ihren Händchen[7] und auf einen Videokanal gebannt, sind weit weniger bestaunenswert als von ›Youtubern‹ plakatiert. Jeder kann sich wie ein »echter« Dirigent gebärden – und jeder tut es auch. Das zeigen nicht nur Loriots bemerkenswerte Sketche[8], sondern auch abenteuerliche Taktierlehrgänge für Kurzentschlossene im unübersehbaren Internet. Orchester sind mietbar und Aufnahmeteams wohlfeil – das Beispiel des ›dirigierenden‹ Wirtschaftsjournalisten Gilbert Kaplan machte in den 1980er Jahren Furore und offenbar Schule und führte zu offiziellen Reengagements des selbst ernannten Mahler-Exegeten und dessen Nachfolger in ähnlicher Sache. Einer Initiative des Berliner Rundfunkredakteurs Klaus Lang gelang 1986 der Nachweis ostentativer Korrumpierbarkeit des durchschnittlich beflissenen Rundfunkhörers, als er den Mitschnitt einer vorjährig stattgefundenen Aufführung der Oberon-Ouvertüre als ›wiederentdeckten Furtwängler‹ zur Diskussion stellte[9]. Die immense Bedeutung des Household Name – hier der Furtwänglers – für den prästabilierten Erfolg eines Dirigenten lässt sich an anderer Stelle auch bequem an der besseren Verkäuflichkeit von Kursangeboten für junge Orchestermusiker und Dirigentenanwärter ablesen, wenn der berühmte Name des erwarteten Meisters allein schon die Überzeugung bei den Kursteilnehmern zu wecken vermag, es werde sich um unvergessliche Lerninhalte handeln, die ihnen ihre Teilnahme zu bescheren verspricht. Umgekehrt dient die Bekanntheit seines Namens jedem Dirigenten selbst noch zur Durchsetzung sperriger Probendetails, deren Realisierung dem Minderberühmten sonst zum Problem würde.

Auf der anderen Seite: Machten sich die Musiker klar, wie viele Orchester vor ihnen den aktuell hofierten Chef bereits abgelehnt und in Grund und Boden kritisiert hatten, bevor sein Name durchgesetzt war, wie viele Lehrmeister denjenigen seinerzeit als talentlos abwiesen, dem sie heute mit Respekt zu begegnen haben, sie würden jener kalkulierten Unterwürfigkeit Einhalt gebieten, die man zuweilen an ihnen beobachten kann. Welche Komplikationen sich einer Reflexion über Dirigentenpolitik entgegenstellen, vermag allerdings am besten zu ermessen, wer bereit ist, dem Prinzip der Namhaftigkeit als generelle Erfolgsgarantie   ̶  für den Entscheidungsbedarf des täglichen Lebens sonst ein probates Mittel  ̶  auf seiner Qualitätssuche für den angesprochenen Bereich zu misstrauen.

[…] Der Majorität gegenüber jedoch zeigen die Kommandierenden des Musiklebens die kalte Schulter. […] Musiker, die, wie dumpf auch immer, ein Absolutes wollten, werden zur Strafe fast notwendig von der Gesellschaft gebrochen, die ihnen vorrechnet, es habe eben nicht gelangt.[10]

Vor diesen Mechanismen verallgemeinernder Charakterisierung sollte man sich hüten – aber mit Kollegenschelte als Frust der Zukurzgekommenen ist ihr nicht beizukommen. Ist der Name des Dirigenten etabliert, fühlen wir uns als sein Publikum in sprichwörtlich sicheren Händen. Wir akzeptieren, dass ein gut honorierter und wohlbekannter Künstler, wie er da vor uns agiert, unmöglich Hasardeur sein, unmöglich nicht alle jene Widerstände überwunden haben kann, die sich dem in den Weg stellen, der sich anheischig macht, das philharmonische Podest als Orchesterleiter zu erobern. Dennoch werden jährlich scharenweise »Maestros von morgen« rekrutiert, ohne dass man sich ihres Könnens auf anderen Gebieten als denen des Orchesterkommandierens in obendrein meist verbaler denn gestischer Form vergewissert hätte[11]. Die Beherrschung der Untergebenen und in deren Konsequenz der eigenen Karriere allein sollten nicht ausreichen, selbst wenn große Namen der Gegenwart und Vergangenheit immer wieder das Gegenteil zu beweisen scheinen. Sind wir also zu gutgläubig oder wollen wir es so genau gar nicht wissen, hat sich der Übertölpelungseffekt wirksamer Symbiose von bestechendem Orchesterklang und fesselnder Optik erst einmal eingestellt?

Martin Fischer-Dieskau, 1. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

[1] Heinz Holliger, Schweizer Oboist von Weltgeltung, übt jeden Tag Klavier, begreift sich als Komponist und seine Dirigiertätigkeit als natürliche Folge seiner Kompetenzen, nicht als Selbstzweck.
[2] Vgl. Martin Fischer-Dieskau, Verdi und Wagner Dirigenten wider Willen, in: Arnold Jacobshagen, Verdi & Wagner, Kulturen der Oper, Köln 2014, S. 44 ff.
[3] Vgl. Hector Berlioz, Memoiren, Dagmar Kreher (trad.), Frank Heidlberger (ed.), Kassel 2007, S. 62.
[4] Vgl. Alexander Werner, Carlos Kleiber, Mainz 2008, S. 66; Michael Gielen, Unbedingt Musik, Berlin (Insel) 2005, S. 126.
 [5] In Italien und Frankreich sind reine Dirigentenklassen bis heute Ausnahmeerscheinungen des Lehrplans.
[6] Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1975, S. 58.
[7] »Jonathan« conducts Strauss’s „Thunder and Lightning“ Polka,

https://www.youtube.com/watch?v=QOSEWeD8d6w

[8] und Vicco von Bülows Erstaunen darüber, dass seine Bewegungen in der Tat Einfluss auf das Tempo der bereitwilligen Philharmoniker ausüben konnten.
[9] Abdruck eines Hörerbriefs aus dem Archiv des ehem. Senders Freies Berlin, heute RBB. Dirigent der Oberon-Ouvertüre war hier Martin Fischer-Dieskau, Royal Philharmonic Orchestra London, ohne, dass dieser Tatbestand für das beschriebene Phänomen von jeglicher Relevanz wäre.
[10] Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, op. cit. S. 140.
[11] Der entitalianisierte Plural als Motto des sogenannten »Dirigentenforum« des Deutschen Musikrats unterstützt den Verdacht auf falsche Zielvorgaben.

Martin Fischer-Dieskau, 1. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Martin Fischer-Dieskau, Buber Doráti Festival (c)

Im Laufe der Jahre hat Martin Fischer-Dieskau weltweit fast 100 Orchester dirigiert, darunter die Berliner Philharmoniker, das Royal Philharmonic, London Philharmonic, Moskauer Staatsorchester, Orchestre National de France, das NHK Tokio, das Tokio Philharmonic und das New Japan Philharmonic. Er leitete alle bedeutenden Symphonieorchester Deutschlands und Skandinaviens sowie viele italienische und spanische Orchester. Er war häufiger Gast bei internationalen Festivals, etwa bei den Berliner Festwochen, dem Helsinki- oder dem Granada-Festival. Nach einer deutschen Theaterlaufbahn Chefpositionen auf drei Kontinenten: In Deutschland, in der Schweiz, in Kanada und Taiwan.

Martin Fischer-Dieskau studierte  Dirigieren, Violine, Klavier und Komposition. Seine Dirigierstudien führten ihn an die Hochschulen von Wien und Berlin sowie an die Accademia Chigiana in Siena; er absolvierte Meisterklassen bei Franco Ferrara, Charles Mackerras, Seiji Ozawa und insbesondere bei Leonard Bernstein. Darüberhinaus beendete er auch ein Musikwissenschafts- und Italianistikstudium an der Freien Universität Berlin mit der Doktorwürde. Sein Buch Dirigieren im 19. Jahrhundert – der italienische Sonderweg erzielte internationale wissenschaftliche Anerkennung. Außerdem erschienen: Wagner und Verdi – Kulturen der Oper.

Martin Fischer-Dieskau, Qualifikation oder Hybris? Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (Teil 1) klassik-begeistert.de

Martin Fischer-Dieskau, Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (3) klassik-begeistert.de

Martin Fischer-Dieskau: Qualifikation oder Hybris? Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (5) klassik-begeistert.de

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