Martin Fischer-Dieskau: "Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt, ist deshalb schon Dirigent" (Teil 4)

Martin Fischer-Dieskau: „Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt, ist deshalb schon Dirigent“ (Teil 4)  klassik-begeistert.de

Qualifikation oder Hybris? Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (4)

Foto: Martin Fischer-Dieskau, (c) Buber Doráti Festival

»Es ist die Vergangenheit, die uns vorantreibt und oftmals die Gegenwart, die uns am Weiterkommen hindert« (Hannah Arendt)

Nach dem Abklingen der Pandemie wollen Opernhäuser und Konzertsäle mit neuer Aufmerksamkeit besucht werden. Vielleicht erlaubt die Zäsur in hoffentlich naher Zukunft auch eine gewisse Reflexion über alles, was im Zusammenhang mit Orchestern und deren Leitung bislang unhinterfragt geblieben ist. Immer wieder werden Dirigenten als Dirigenten eingestuft, die es gar nicht sind. »Karrieren« sind als Beweis untauglich.

Diese fünfteilige Betrachtung des Dirigenten Martin Fischer-Dieskau ist weder Pamphlet noch Kollegenschelte. Entworfen ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift möchte sie noch einmal in Erinnerung rufen, dass Dirigieren kein Beruf ist, den man um seiner selbst willen ergreifen kann. Dieser Beruf ist Schimäre und bleibt eine Art Wunschvorstellung von allen Seiten, mit denen er zu tun hat. Das war von Anbeginn dieser Tätigkeit so und macht das hohe Attraktivitätspotential aus, das von ihm ausgeht. Wenn es schwierig ist, dem derart Umschwärmten gerecht zu werden, bleibt doch die Erkenntnis, dass Glanz nicht zum Sparpreis zu haben sein sollte. Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt oder sich stabfrei vor ein Orchester stellt, ist deshalb schon Dirigent. 

Wagen Sie einen im besten Sinn unvoreingenommenen Blick hinter die Kulissen!

von Martin Fischer-Dieskau

Teil IV: Macht und Probenrede

Dirigieren verrät seinen ursprünglich karriereinkompatiblen, reinen Praxisbezug aber gerade an den Soforteinsteigern ohne Stammbaum: Der legendäre Pianist Swjatoslaw Richter hatte am Opernhaus in Odessa Bühnendienste versehen und repetiert, ohne selbst Vorstellungen zu leiten. 1952 erachtete ihn Prokofjew als »seinen« besten neuen Dirigenten, nachdem er mit Rostropowitsch in Moskau unvorhergesehen die Uraufführung der Sinfonia Concertante op. 125 für Violoncello und Orchester vom Pult aus betreut hatte. Zu weiteren Dirigaten kam es für Richter nicht mehr. »Es gibt zwei Dinge, die ich nicht mag: die Analyse und die Macht. Für einen Dirigenten sind sie unabdingbar. Und deshalb ist das nichts für mich«[1]. Als ein über jeden Zweifel erhabener Musiker liefert Richter mit dieser Entsagung gleichsam den Beweis, dass Spontaneität und Machtwille schlecht harmonieren bei der Beschäftigung mit dem Dirigieren. Er hätte in der Tat die allerbesten Voraussetzungen für den Beruf mitgebracht und widerstand ihnen trotzdem mit Aplomb. »Wenn einer dirigiert, dann stimmt irgendwas nicht mit ihm«, hatte Hans von Bülow gesagt. Er war einer der Pioniere der Dirigentenemanzipation. Was er anspricht, ist die Unvereinbarkeit der stummen Rolle mit dem Befehlshaberstand. Der aktive Widerstand der Orchester richtet sich aber gerade gegen alles Vermittelnde, alles, was weder Technik noch direkte Übertragung ist.

Der redende Kapellmeister wird verdächtig als einer, der, was er meint, nicht drastisch zu konkretisieren vermag; auch als einer, der durch Geschwätz die zutiefst verhassten Proben in die Länge zieht.[2]

Martin Fischer-Dieskau, Buber Doráti Festival (c)

Bis zu einem gewissen Grade ertragen Musiker freilich, wenn in den Proben versucht wird, bestimmte Sachverhalte in Bildersprache zu verwandeln. Das lockert die Atmosphäre. Kyrill Kondrashin eröffnet quasi die Perspektive auf eine ganze ›Schule‹ – womöglich als »russische« zu bezeichnen–, wenn er die Vergleichsrhetorik zum Instrument einer wirksamen Probiermethode erhebt. Viele Dirigenten des osteuropäischen Raums stützen ihre Strategien tatsächlich auf dieses Prinzip:

Angenommen, Sie wollen erreichen, dass die Musiker subito piano spielen. Das Orchester führt dies aber nicht ausreichend aus. Sie sagen: »Tun Sie so, als wären Sie erschrocken.« Wieder gelingt es nicht. »Nun stellen Sie sich vor, Sie gingen im Dunkeln die Treppe hinunter, und eine Stufe ist tiefer als erwartet – Sie zucken zusammen. Wecken Sie in sich eine solche Assoziation.[3]

Claudio Abbado pflegte hier einzuwenden, während der Aufführung könne auch nicht gesprochen werden und bevorzugte – manchmal zum Leidwesen seiner Musiker – einsilbige Hinweise auf das jeweilige Rollenspiel der Instrumente, dem bewusst gelauscht werden solle, um Zusammenhänge auditiv zu kontrollieren, statt sie verbal zu veranschaulichen. Lorin Maazel wurde in seiner Anfängerzeit Zeuge einer Auseinandersetzung, die in folgendem Wortwechsel gipfelte: »Sind Sie Dichter oder Dirigent? Treffen Sie eine Entscheidung, dann sind wir bereit, Ihnen zu folgen«[4].

Die Aversion gegen die Rede ist den Orchestermusikern vererbt vom physisch Arbeitenden. Sie argwöhnen, dass der Intellektuelle sie betrügt, der des Wortes mächtig ist, dessen sie entraten. Archaische, unbewusste Mechanismen dürften beteiligt sein. Der Hypnotiseur schweigt; allenfalls erteilt er Befehle.[5]

ÖKONOMIE UND GEDÄCHTNIS

Wenn Dirigenten den Bewegungsduktus, innerhalb dessen sie begonnen hatten, auch nicht wirklich ablegen können, sozusagen wiedererkennbar bleiben, so sehr sich im Laufe der multiplen Lernprozesse entlang ihres beruflichen Weges auch Korrekturmodelle angeboten haben mögen, nach außen hin verringert sich ihre körperliche Aktivität mit zunehmendem Alter doch häufig so beträchtlich, dass ihr Erscheinungsbild dem eines Schamanen immer ähnlicher wird: Beschwörungsgestik. Eine solche Entwicklung ist willkommen, jedes Orchestermitglied bestätigt das, Beispiele für eine fortschreitende Ökonomisierung der Mittel bei Dirigenten sind Legion. Adornos Muster des ›Hypnotiseurs‹ zeichnet sich hier ab. Aber Hypnotiseure lesen nicht, während sie hypnotisieren. Das Auswendig-Dirigieren ist – offenbar als Begleitphänomen des Generationenwandels – etwas aus der Mode gekommen. Dabei konnte es dem legitimationsbedürftigen Berufsstand doch als weiteres willkommenes Gleichstellungsmerkmal zu den Instrumentalsolisten dienen, weil memorierte Partituren immerhin intensive Beschäftigung mit der Materie voraussetzen – eine Anstrengung, die nicht in allen Fällen von den jungen Dirigentenkarrieren im Dauerstress des Überall-Gefragtseinmüssens mehr aufgebracht werden will. Wie denn, werden sich viele der heutigen Akteure insgeheim fragen, lernt man eigentlich eine Partitur auswendig?

Karajan, Mitropoulos, Reiner, Bernstein, Maazel, Abbado und Ozawa dirigierten noch auswendig, selbstverständlich auch Oper. Dazu bedarf es freilich einer immensen strukturellen Weitsicht und eines gehörigen Energie- und Zeitaufwands. Wem nicht klar ist, worin der Vorteil des Auswendigdirigierens bestehen soll: Das berühmte ›Ende‹ im ›Anfang‹, das zu Sergiu Celibidaches Phänomenologie gehörte, spielt eine Rolle. Die Einheit und Konzentration der Werkschau, der ununterbrochene Augenkontakt, selbst noch der Effekt einer virtuosen Gedächtnisleistung auf die Protagonisten des Orchesters und der Bühne tragen zum kohärenten Gesamteindruck bei. Ein für den ›zahlenden Kunden‹ auf den Abonnementsplätzen durchaus einklagbarer Gegenwert.

NEUE PULTSTARS UM JEDEN PREIS

Das Erlebnis einer authentischen Darstellung, die uns die Intentionen des Werkschöpfers greifbar nahebringt und uns begeistert, der wir Vertrauen entgegenbringen und die unsere Aufmerksamkeit nicht übergebühr aufspaltet zwischen Werk und Wiedergabe, das ist das Optimum, das wir vom Konzert- und Opernbesuch erwarten dürfen. Die Verantwortung dafür im orchestralen Bereich trägt der Dirigent. Wir liefern uns seiner Fama aus und wir dürfen fragen, welcher Empfehlung wir es zu verdanken haben, dass wir uns ausgerechnet der Führung anvertrauen, die uns der Veranstalter anbietet. Geborene Dirigenten, die von der ersten Stunde ihres In-Erscheinung-Tretens der Verantwortung ihres Berufes gerecht werden, sind reine Erfindung. Stattdessen wird immer wieder aufs Neue versucht, dieser Legende Vorschub zu leisten und neue Pultstars zu kreieren. Das besorgen die zitierten, internationalen Agenturen. Jedes Jahr und in immer kürzeren Intervallen.

Martin Fischer-Dieskau, (c) Schmidt Artists

Dirigentenwettbewerbe allerorten suggerieren, es herrsche Mangel an Talenten. »Die Not ist groß …« lautet die oft gehörte Klage. Dabei ist der Markt vor der Hand gesättigt; Langzeitverpflichtungen – einst die Grundlage jeder dirigentischen Approbation – bleiben dabei die Ausnahme. »Die Not« besteht nicht in der geringen Zahl der Anwärter. Es fehlen vielmehr die überragenden Verführer zur Musik, die nur aus der Summe von Können, Wissen und Erfahrung nachwachsen. Wird, wo solche Erwägungen zum Tragen kommen, nur wieder der maßgeblich deutsche Hang zur ›Apokalypse‹ beschworen?

JUGENDWAHN

Es gibt noch andere Erklärungsmuster: »Wir haben zu wenig junge Leute.« »Wer erwachsen wird, ist verloren.« Demographische Realitäten machen Jugendliche hierzulande inzwischen zur Minderheit und erzwingen die »Entgrenzung der Adoleszenz.« Aber bei den Dirigenten und Dirigentinnen gerät das Thema ›Jugendwahn‹ in den Verdacht vorsätzlicher Deklassifizierung eines Berufsethos. Mehr als Eignungs-, mehr als Talentbeweise sind nicht zu erwarten bei den unter Vierzigjährigen. Aber ebenso wenig bei den Älteren, die den Einstieg erst mit Mitte vierzig suchen und die dirigentische Pubertät damit nur nach hinten verschieben. Karajans lange Jahre an den kleinen und mittleren Opernhäusern scheinen unverzichtbar, sollen die anfangs gemachten Versprechen und die ungedeckten Schecks jugendlichen Elans eines Tages mit Gewinn eingelöst werden. »Schauen Sie nur, welches Temperament!« Beobachtungen dieser Couleur vernachlässigen, dass Temperament sich eben weit mehr im Adagio offenbart als im Prestissimo, wie sich die Knappertsbusch-Enthusiasten erinnern werden.

[1] Bruno Monsaingeon, Richter – LInsoumis – Der Unbeugsame, EuroArts 2012.
[2] Theodor W. Adorno, op. cit. S. 135.
[3] Kyrill Kondraschin, Die Kunst des Dirigierens, München 1989, S. 64.
[4] Lorin Maazel, op. cit.
[5] Theodor W. Adorno, op. cit.

Martin Fischer-Dieskau, 3. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Im Laufe der Jahre hat Martin Fischer-Dieskau weltweit fast 100 Orchester dirigiert, darunter die Berliner Philharmoniker, das Royal Philharmonic, London Philharmonic, Moskauer Staatsorchester, Orchestre National de France, das NHK Tokio, das Tokio Philharmonic und das New Japan Philharmonic. Er leitete alle bedeutenden Symphonieorchester Deutschlands und Skandinaviens sowie viele italienische und spanische Orchester. Er war häufiger Gast bei internationalen Festivals, etwa bei den Berliner Festwochen, dem Helsinki- oder dem Granada-Festival. Nach einer deutschen Theaterlaufbahn Chefpositionen auf drei Kontinenten: In Deutschland, in der Schweiz, in Kanada und Taiwan.

Martin Fischer-Dieskau studierte  Dirigieren, Violine, Klavier und Komposition. Seine Dirigierstudien führten ihn an die Hochschulen von Wien und Berlin sowie an die Accademia Chigiana in Siena; er absolvierte Meisterklassen bei Franco Ferrara, Charles Mackerras, Seiji Ozawa und insbesondere bei Leonard Bernstein. Darüberhinaus beendete er auch ein Musikwissenschafts- und Italianistikstudium an der Freien Universität Berlin mit der Doktorwürde. Sein Buch Dirigieren im 19. Jahrhundert – der italienische Sonderweg erzielte internationale wissenschaftliche Anerkennung. Außerdem erschienen: Wagner und Verdi – Kulturen der Oper.

Martin Fischer-Dieskau, Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (3) klassik-begeistert.de

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