Der Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke befasst sich ansehenswert mit Oscar Wildes Leben

A Wilde Story, Ballett von Marco Goecke  Staatstheater Hannover, Opernhaus,  4. November 2022

Hannoveraner Ballett-Ensemble, in der Mitte die Sopranistin Kiandra Howarth (Foto RW)

Kennzeichnend für Goeckes Choreographie waren schnelle Läufe, superschnelle Drehungen, die einen schon beim Zusehen schwindeln ließen, vor allem aber exzentrisch abgehackte, schnelle, mitunter kasperlehafte Bewegungen von Armen und Händen, manchmal auch des Kopfes, mit weit aufgerissenen Mündern.

A Wilde Story
Ballett von Marco Goecke

Staatsballett Hannover,
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

Staatstheater Hannover, Opernhaus,  4. November 2022

von Dr. Ralf Wegner

A Wilde Story, das klang für mich zunächst wie amerikanisiertes Oberbayrisch. Gemeint war aber der irische Romancier Oscar Wilde. Marco Goecke hatte für seine tänzerische Abhandlung sehr eingängige Kompositionen u.a. von Jules Massenet und Erich Wolfgang Korngold ausgewählt. Der sehr junge, schlaksige, mit überbordender Mimik dirigierende, vom jugendlichen Publikum bereits mit Jubel begrüßte James Hendry entlockte dem Niedersächsischen Staatsorchester Hannover opulente Töne, das von der australischen Sopranistin Kiandra Howarth aufs Glücklichste unterstützt wurde. So schön, mit goldglänzendem Timbre in der Höhe, habe ich Mariettas Lied aus der Toten Stadt bisher nicht gehört. Schade, dass sie nicht mehr zu singen hatte.

Zum Tänzerischen: Anders als beim klassischen Ballett wurde nie vom Boden abgehoben. Kennzeichnend waren schnelle Läufe, superschnelle Drehungen, die einen schon beim Zusehen schwindeln ließen, vor allem aber exzentrisch abgehackte, schnelle, mitunter kasperlehafte Bewegungen von Armen und Händen, manchmal auch des Kopfes, mit weit aufgerissenen Mündern, weniger des Oberkörpers. Direkter Körperkontakt wurde in der Regel vermieden, abgesehen von sexuell motivierten Übergriffen zwischen den Tänzern.

Gegen Ende traten zwei Tänzer mit hinten offenem Hemd auf. Während sie sich seriell nach vorn zum Bühnenhintergrund unter Einziehen der Schultern beugten, traten zum Publikum hin die Rückenmuskulatur und vor allem die Dornfortsätze der Wirbelsäule so stark zum Vorschein wie bei einer, aus dem Kino mannigfach gesehenen, Verwandlung in einen Werwolf: Ausdruck der sexuellen Urgewalt? In einer vorhergehenden, sehr poetischen Szene saß im Hintergrund ein Tänzer mit nacktem, mit schwarzen Streifen senkrecht bemaltem Rücken reglos zum Publikum, ließ sich das als Gefängnisaufenthalt interpretieren? Kiandra Howarth sang dazu, in die Riege der Tänzerinnen eingereiht, begeisterungswürdig Mariettas Lied.

Narrativ ließ sich das Stück ohne Vorkenntnisse nur schwer entschlüsseln. Im Programmheft finden sich deshalb detaillierte Erläuterungen. Muss man sich diese vorher vergegenwärtigt haben, um dem Stück folgen zu können? Ich meine grundsätzlich nein. Große Kunst bedarf keiner Erklärung, sie sollte sich aus dem auf der Bühne Dargebotenen ergeben. Damit stellte sich mir eine weitere Frage: Hätte die durchaus poetische Momente aufweisende Choreographie Goeckes denselben Effekt gehabt, wenn sie nicht von Massenet und Korngold, sondern, wie bei John Neumeiers Préludes CV von vor zwei Tagen, mit mitunter doch recht schrägen Tönen von Lera Auerbach getragen worden wäre?

Die Tänzerinnen und Tänzer waren allesamt fabelhaft. Im Detail ließ sich allerdings nur vermuten, wer was getanzt hat. Da das Bühnenlicht regelhaft von oben auf die Tanzenden gerichtet war, lagen die Körper und vor allem die Gesichter zumeist im Halbschatten. Die Hannoveraner Ballettfans werden ihre Tänzerinnen und Tänzer sicher richtig zugeordnet haben. Das war mir verwehrt. Ich erwähne daher von den insgesamt 15 mit Rollen bedachten Personen stellvertretend nur die ersten drei auf dem Programmzettel: Oscar Wilde: Conal Francis Martin, Constance: Sandra Bourdais, Alfred Douglas: Rosario Guerra. Der Schlussbeifall des überwiegend jugendlichen Publikums war langanhaltend und auch jubelnd.

Dr. Ralf Wegner, 5. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ballett von John Neumeier Préludes CV Hamburgische Staatsoper, 2. November 2022

Hamlet 21, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 16. Oktober 2022

Ballett von John Neumeier, Dritte Sinfonie von Gustav Mahler Staatsoper Hamburg, 23. September 2022 

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