Das Fest der großen Stimmen in Salzburg – und Anna Netrebko überstrahlt sie alle

Amilcare Ponchielli, La Gioconda, Anna Netrebko, Jonas Kaufmann  Salzburg, Großes Festspielhaus, 1. April 2024

Aber dann, unmittelbar nach der Pause geht es bei der Ausnahmekünstlerin Anna Netrebko mit der Arie „Suicidio“ in die Vollen. Prachtvolle Lyrismen, samtweiche Klanglinien, konturiert und warmgolden schimmernd in der Mittellage, bilden das Fundament ihres farbenreichen Soprans, der sich elastisch in ebenso angenehm gurrende Tiefen spreizen kann. In wogenden Wellen steuert die Stimme immer wieder auf feinsilbrige Spitzentöne zu, die sich duftig leicht im Auditorium verlieren.

Amilcare Ponchielli: La Gioconda

La Gioconda: Anna Netrebko
La Cieca (Die Blinde), ihre Mutter: Agnieszka Rehlis
Enzo Grimaldo: Jonas Kaufmann
Alvise Badoero: Tareq Nazmi
Laura: Eve-Maud  Hubeaux
Barnaba: Luca Salsi
Zuane: Nicolò Donini
Isepo: Didier Pieri

Musikalische Leitung: Antonio Pappano
Inszenierung: Oliver Mears
Bühne: Philipp Fürhofer
Kostüme: Annemarie Woods
Choreografie: Lucy Burge
Licht: Fabiana Piccioli

Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia
(Einstudierung: Andrea Secchi)

Bachchor Salzburg (Einstudierung: Michael Schneider)

Salzburg, Großes Festspielhaus, 1. April 2024

von Nicole Hacke

Die Zeit schreibt Geschichten, und manchmal werden alte Geschichten einfach neu geschrieben. Bei den Osterfestspielen in Salzburg hat sich Oliver Mears Ponchiellis Oper La Gioconda angenommen, das Libretto einmal auf links gedreht und daraus ein schockierendes Psychogramm der gleichnamigen Protagonistin gestrickt.

Ob meisterhaft oder nicht: Zumindest gibt sich am Abend des 1. Aprils die Top-Elite der Opernsänger im Salzburger Festspielhaus die Ehre. Und das ist meistens schon die halbe Miete eines Erfolg versprechenden Opernabends.

Anna Netrebko, Luca Salsi, Jonas Kaufmann, Eve Maud Hubeaux und Tareq Nazmi bilden den künstlerischen Kern eines packendes Psycho-Thrillers, der selten aufgeführt und in dieser höchst attraktiven Konstellation absolute Begehrlichkeit weckt – und das alles auch noch unter der musikalischen Leitung von Sir Antonio Pappano.

Wenn in diesem Zusammenhang etwas göttlich klingen muss, dann ganz sicher diese Namen in meinen Ohren, Inszenierung hin oder her.

Doch auch das Regiewerk packt, bewegt, rüttelt auf und lässt einen so manches Mal leicht entsetzt auf das Bühnendrama blicken. So taucht das Publikum gleich mit der Ouvertüre in eine abscheuliche Szene ein, in der sich eine Minderjährige flehentlich an die Brust der Mutter drückt, um im Schutz ihrer Wärme dem Unausweichlichen zu entgehen.

Sie wird Opfer einer verstörend in Szene gesetzten Vergewaltigung, die einem unangenehm unter die Haut geht. Mir jedenfalls läuft ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Auch wenn die Szene selbstverständlich nicht ausgespielt wird, sich lediglich in Andeutungen verliert, macht es der subtile Schleier aufkeimender Fantasien nicht besser.

Damit ist der rote Faden eines leidvollen Frauenschicksals aufgenommen, in dem die gedemütigte und hoch traumatisierte Gioconda zwischen den Fronten ihres geliebten Enzo Grimaldo und ihrem ehemaligen Peiniger Barnaba emotional zerrieben wird.

Luca Salsi als Giocondas Peiniger Barnaba spielt sich dabei um Kopf und Kragen. Gerne möchte man gleich nach dem ersten Akt die Bühne stürmen, um diesem Mann die Augen auszukratzen. Was für ein gottverdammter Widerling, der es so grandios versteht, die Bühne zu seinem durchtrieben intriganten und schmierigen Schlachtfeld zu machen. Und dann noch diese Visage, diese ekelerregenden Blicke, die er Gioconda immer wieder zuwirft.

Übel lass nach. Doch wie hypnotisiert wird man von dieser bösen Aura des hervorragend schauspielernden Luca Salsi angezogen und scheint schier gefesselt von seiner imposanten Bühnenpräsenz sowie von seinem sehr differenzierten Gesang zu sein.

Immer und immer wieder spannt der voluminöse Bariton den gesanglichen Bogen aufs Neue, versieht ihn mit changierend emotionalen Temperaturen und arbeitet insbesondere musikalisch einen unverwechselbar konturierten Rollencharakter heraus, der an den richtigen Stellen auch dreckig klingende Töne  produziert. Herrlich!

Anna Netrebko hingegen kommt bis zur Pause nicht wirklich aus dem Tritt, weder darstellerisch noch gesanglich. Ihre Stimme flackert unisono mit dem Drama wie eine nervöse Kerze im Wind, was einen undifferenzierten Höreindruck hinterlässt. Auch schauspielerisch plätschert es bei der Sopranistin gefällig dahin. Und so zieht sich die Handlung gefühlt auseinander, ob der fehlenden schauspielerischen Dynamik.

Aber dann, unmittelbar nach der Pause geht es bei der Ausnahmekünstlerin mit der Arie „Suicidio“ in die Vollen. Prachtvolle Lyrismen, samtweiche Klanglinien, konturiert und warmgolden schimmernd in der Mittellage, bilden das Fundament ihres farbenreichen Soprans, der sich elastisch in ebenso angenehm gurrende Tiefen spreizen kann. In wogenden Wellen steuert die Stimme immer wieder auf feinsilbrige Spitzentöne zu, die sich duftig leicht im Auditorium verlieren.

Anna Netrebko und Jonas Kaufmann

O dio mio! Was für ein sphärischer Gesang, der opiatische Wirkkräfte verströmt. Im gemeinsamen Duett mit Jonas Kaufmann, der die Rolle des Enzo Grimaldo gibt, bedient Netrebko zudem die gesamte Palette der dramatischen Klaviatur. Plötzlich blüht die Sängerin zu voller künstlerischer Größe auf, gibt sich der Rolle voll und ganz hin, überwindet die kontrollierte Ekstase und bricht sich in allen Facetten ihrer emotionalen Klangwelt wie eine in der Brandung zerschellende Welle.

Genau so hatte ich mir die Netrebko vorgestellt. 

Eher blass und wenig aufregend gestaltet sich die Rolle des Enzo Grimaldo. Jonas Kaufmann, der  in den ersten beiden Akten ein stimmlich reduziertes Klangbild abliefert, tendenziell mit einer matt belegten Stimme wenig strahlkräftige Klangwellen in das Auditorium transportiert, steigert sich gesanglich und auch darstellerisch ebenfalls erst nach der Pause. 

Doch die exponierten Höhen wollen zu keinem Zeitpunkt so richtig bei ihm durchbrechen. Der  resonanzstarke Himmel ist bedeckt und durch die dichte Wolkendecke dringen die hellen Sonnenstrahlen nur gedämpft und kaum wahrnehmbar. So in etwa verhält es sich mit Kaufmanns glanzlosen Spitzentönen an diesem Abend, die gebändigt und wahrscheinlich unfreiwillig unfrei klingen.

Dafür blüht es satt in der warmen Mittellage des Tenors, der mit seiner Bruststimme einfach die schönsten und facettenreichsten Klangfarben zaubert. Und so kann man denn „Cielo e mar“ genussvoll mit den Ohren degustieren, sich in Raum und Zeit fallen lassen und einfach alles um sich herum vergessen.

Nicht vergessen zu erwähnen sollte man auch Eve Maud Hubeaux und Tariq Nazmi, die in ihren jeweiligen Rollen das Sängerquintett harmonisch komplementieren.

Aber was wäre die Oper überhaupt ohne das Dirigat?

Und wie würde die Musik nur zu einer so eindrücklichen Sprache finden, gäbe es nicht einen Sir Antonio Pappano, der orchestral tönende Luft in magisch unvergessliche Momente verwandeln kann?

Wir fragen bitte nicht weiter nach. Dieser Abend, so schnell wie er mit dem letzten Ton verklungen ist, beschreibt die Magie eines besonderen flüchtigen Moments, der sich auf ewig in die Erinnerung einbrennen wird.

Nicole Hacke (operaversum.de), 2. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Amilcare Ponchielli, La Gioconda Salzburg, Großes Festspielhaus, 27. März 2024

Amilcare Ponchielli (1834 – 1886), La Gioconda Deutsche Oper Berlin, 24. Februar 2024

4 Gedanken zu „Amilcare Ponchielli, La Gioconda, Anna Netrebko, Jonas Kaufmann
Salzburg, Großes Festspielhaus, 1. April 2024“

  1. Sehr geehrte Frau Hacke,
    tut mir leid, aber Ihre Empfindung, dass Frau Netrebko in der ersten Hälfte zu schwach war, kann ich überhaupt nicht bestätigen. Sie war durchgehend der Fels in der Brandung. Aber manche Frauen sehen das vielleicht anders.

    Mit freundlichen Grüßen, eine Besucherin des Ostermontags

    Doris Hahn

    1. Liebe Frau Hahn,
      das müssen Sie ja auch gar nicht bestätigen. Sie hatten einfach einen anderen Höreindruck. Mir hat meiner in den ersten beiden Akten nicht gefallen, da die Stimme von Anna Netrebko nicht ganz auf Linie war und ich sogar vereinzelt Registerbrüche heraushören konnte. Alles auch eine Frage des Geschmacks. Insgesamt war es dann aber (wie ich auch geschrieben habe) ein wahnsinnig tolles und rundes Erlebnis, unvergesslich und sehr beeindruckend. Es ist schon klar, warum genau die Sänger für die jeweiligen Rollen ausgewählt wurden.

      Herzliche Grüße
      Nicole Hacke

  2. Wir durften die Aufführung am 01.04.2024 hören und sehen. Für uns von der ersten Minute an spannungsgeladen mit dem Wunsch Barnaba von der Bühne zu vertreiben. Großartige Rolle und große Präsenz und Stimme von Luca Salsi.

    Und dann Anna Netrebko, diese Stimme ist überirdisch und die Spiellaune und ihre Präsenz sind einmalig und unerreichbar. Immer wieder Anna Netrebko!

    Heike Bahr

    1. Liebe Frau Bahr,

      Luca Salsi hat wirklich alles gegeben. Die Rolle schien ihm wahrhaftig wie auf den Leib geschneidert zu sein. Wie schön, dass Sie ein so unvergessliches Erlebnis in Salzburg hatten.

      Herzliche Grüße
      Nicole Hacke

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