Anna Bolena an der Deutschen Oper Berlin fehlt es an Theatralik

Gaetano Donizetti (1797 – 1848), Anna Bolena  Deutsche Oper Berlin, 22. Dezember 2023

Anna Bolena: Federica Lombardi, Riccardo Fassi © Bettina Stöß

Anna Bolena
Gaetano Donizetti (1797 – 1848)

Enrico VIII.  Riccardo Fassi
Anna Bolena  Federica Lombardi
Giovanna Seymour  Vasilisa Berzhanskaya
Lord Rochefort  Padraic Rowan
Lord Riccardo Percy René Barbera
Smeton  Karis Tucker
Sir Hervey   Kangyoon Shine Lee

Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Enrique Mazzola, musikalische Leitung
Inszenierung: David Alden

Deutsche Oper Berlin, 22. Dezember 2023

von Kirsten Liese

Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein großes Haus mit 2000 Plätzen voll besetzt ist, nachdem in den Post Covid-Zeiten viele Theater um die Wiederkehr des Publikums bangen und kämpfen mussten. Ganz gleich, ob sich das damit erklärt, dass die Leute zur Weihnachtszeit verstärkt ausgehen oder sich für ein seltener aufgeführtes Stück des Randrepertoires interessieren, zu denen Donizettis Anna Bolena zweifellos zählt. Die Krisenzeit scheint überwunden und das freut.

Und wenn die Vorstellung noch dazu eine halbwegs ansehnliche Inszenierung zu bieten hat und ein achtbares Ensemble, ist das in heutigen Zeit schon sehr viel.

Musikalisch allerdings überzeugt die Produktion weniger. Die Dramatik vermittelt sich nicht, man bleibt seltsam unberührt. Warum das so ist, könnte ich womöglich gar nicht so genau auf den Punkt bringen, hätte ich nicht vor wenigen Wochen in Riccardo Mutis Mailänder Opernakademie exemplarisch an Bellinis Norma erfahren, worauf es bei einer Belcanto-Oper ankommt.

Enrique Mazzola löst sehr wenig von dem ein, was der geniale Belcanto-Experte Muti dem Nachwuchs an fundamentalen Dingen auf den Weg gegeben hat. An erster Stelle dazu zählt, Akkorde im Forte nie mit Kanonendonner abzufeuern, sondern immer soft anzusetzen. Das geschieht an diesem Abend leider kein einziges Mal. Jeder Akkord bollert unschön aus dem Gesamtgefüge heraus. Und macht die Musik damit streckenweise kaputt.

GP Anna Bolena: Vasilisa Berzhanskaya, Federica Lombardi © Bettina Stöß

Ohnehin wird im Orchester nicht durchgängig Legato gespielt, und kaum einmal  gelingt Mazzola ein Spannungsbogen über die Pausen hinweg.

Zwar wirkt der Italiener sehr engagiert am Pult, aber die Theatralik – und das ist das größte Versäumnis in dieser Einstudierung – fällt viel zu dürftig aus, dies vor  allem in den meist unterschätzten Rezitativen. Dabei erzählt doch das Libretto von  Felice Romani nach der wahren Historie,  wie die englische Königin Anne Boleyn 1536 nach  falschen Anklagen angeblicher Untreue zum Tode verurteilt und hingerichtet wird. – Von ihrem eigenen Mann, der sie komplikationslos loswerden und ihr die Schuld an der zerrütteten Ehe in die Schuhe schieben will, um ihre Hofdame Jane Seymour zu heiraten. Diese grausamen Angriffe, die den bitteren Existenzkampf der erniedrigten Heldin nach sich ziehen, bleiben in der von der Deutschen Oper übernommenen Produktion aus Zürich viel zu lasch.

Anna Bolena: Federica Lombardi © Bettina Stöß

Mit ihren großen Stimmen und virtuoser Sicherheit in den koloraturreichen Duetten beeindrucken die beiden Heldinnen Federica Lombardi und Vasilisa Berzhanskaya allemal, auch wenn ihre Stimmen in der Höhe mitunter etwas zu dick tönen. Nur hätten sie einen Dirigenten oder Korrepetitor gebraucht, der mit ihnen weitaus genauer am Text und Ausdruck feilt wie Muti mit seinen Protagonistinnen in Norma. Und sie ermutigt, seitens der Theatralik auch einmal zu übertreiben, mitunter braucht es das, damit sich die Dramatik auf den Zuschauer überträgt.

Eine einzige Szene, in der Smeton, ein Verehrer Annas, der sie vergeblich begehrt, unter Folter zu einer Falschaussage vor Gericht gezwungen wird, kann die fehlende Dramatik in der Musik nicht ausreichend kompensieren. Es ist die grausamste Szene in Aldens Inszenierung, in der es einem schon einmal mulmig zumute wird. Mit einer blutverschmierten Augenbinde liegt da der Gemarterte am Boden, seine Peiniger schütten Wasser über seinem Kopf aus.

Wie es aber um das Seelenleben der armen Anna bestellt ist, die zu allem Übel erfahren muss, dass ihre engste Vertraute mit ihr um die Gunst des Königs rivalisiert, vermittelt sich kaum.

An der Regie liegt es diesmal nicht, dass die Produktion wenig unter die Haut geht. Im Alter von mittlerweile 74 Jahren ist der einstige Provokateur David Alden deutlich moderater geworden. Seine Inszenierung verleugnet nicht das 16. Jahrhundert der Tudors, konterkariert nicht die Musik, wirkt nur mit einigen Anachronismen nicht ganz zwingend.

Warum Giovanna Seymour, zunächst Hofdame, dann dritte Ehefrau des Tudor Königs, zunächst in Roben der goldenen 1920er Jahre auftritt, später dann in passenden historischen Kostümen, erklärt sich beispielsweise nicht, fällt aber in dieser Beliebigkeit auch nicht ins Gewicht. Eher befremdet es, dass Enrico VIII. alias Heinrich VIII., Porträts nach ein feister Mann, hier als spillerige Gestalt fast wie eine Karikatur des realen historischen Vorbilds erscheint und damit auch mitnichten als eine bedrohliche Figur. Immerhin  aber mit seinem profunden Bass fügt sich Riccardo Fassi in das insgesamt stimmstarke Ensemble ein.

Das Berliner Publikum zeigt sich trotz der genannten Abstriche sehr zufrieden. Einen Vergleich mit Muti, der leider schon lange nicht mehr in Berlin wirkte, haben wohl aber auch die wenigsten. Und wenn eine halbwegs ansprechende Bühne und ein respektables Ensemble geboten werden, ist das eben in heutigen Zeiten durchaus viel.

Kirsten Liese, 25. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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