A. ROSITSKIY – C. WINTERS (c) JBerger – ORW Liège
Ein Opernhaus – gar ein als „königlich-wallonisch“ benanntes – muss eigentlich schon vom Namen her märchenhafte Assoziationen auslösen. Und ein solch schönes wie das der Lütticher Oper ohnehin! Wer also auf dem Weg zum Opernhaus in den vielen kleinen Gässchen der Altstadt den stimmungsvollen Charme von verblasstem Glanz des Vergangenen in sich bereits aufsaugen konnte, fand sich im wallonischen Kulturtempel fortgesetzt in märchenhafte Gefühle versetzt – nicht nur wegen der charmanten Architektur, sondern vor allem auf Grund der in sich selbst wirklich märchenhaften Neuproduktion von Dvořáks Rusalka. Mit einer hochgradig gelungenen Inszenierung und überzeugender musikalischer Leistung zeigt Lüttich deutlich, dass in der Europäischen Opernlandschaft mit der Wallonie zu rechnen ist.
Antonín Dvořák (1841-1904)
Rusalka
Giampaolo Bisanti, Dirigent
Orchester und Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège
Rodula Gaitanou, Regie
Corderlia Chisholm, Bühnenbild
Opéra Royal de Wallonie-Liège, 25. Januar 2024
von Willi Patzelt
„Auf die Höhe der besten Opern aller Nationen“ sei Antonín Dvořáks Rusalka zu stellen, bemerkte einst der österreichische Dirigent und Musikwissenschaftler Kurt Pahlen (1907-2003). Recht hatte er! Doch dabei wollte der tschechische Nationalkomponist, gerade aus den Vereinigten Staaten heimgekehrt, weniger eine klassische Oper, als ein – wie er es im Untertitel nennt – „lyrisches Märchen“ vorlegen.
Doch Dvořáks erfolgreichstes Bühnenwerk wird wohl nicht nur durch jene so anrührende Geschichte der kleinen Wassernymphe, die sich in ihrer unentrinnbaren Welt gefangen fühlt und bereit ist, ihre Unsterblichkeit aufzugeben, um die Liebe des Prinzen zu gewinnen, zum Märchen. Die ganze Figurenanlage und die auch die durchaus böhmisch-natürlich gefärbte Musik erwecken auch im Gesamtbild fast schon den Eindruck, Vorläufer jener – und das ist nur positiv gemeint – tschechischen Märchenverfilmungen zu sein, die heute an Sonntagvormittagen in der ARD für Eltern zur Verfügung gestellt werden, damit deren Kinder „auch mal was Vernünftiges“ zu sehen bekommen.
Doch natürlich ist Rusalka ein Werk, das auch tief im deutsch-französischen Symbolismus verwurzelt ist, und in dem Sigmund Freuds im Premierenjahr 1901 bereits hochpopuläre Ideen ihren Niederschlag finden.
Die Inszenierung der Griechin Rodula Gaitanou stellt – bei allem Raumlassen für weiterführende Deutungen – jedoch mehr die sinnliche Märchenwelt in den Vordergrund, als sich in tieferen oder belehrenden Deutungsschichten zu verlieren. Das tut der Inszenierung wahnsinnig gut! Der Weg des Zuschauers hin zur kathartischen Selbst- oder Fremd-reflexion ist kein aufoktroyierter, dann nicht selten zu Verweigerungshaltung führender, sondern vielmehr eine Einladung durch Sinnlichkeit.
Wunderbare Kostüme, vor allem das der Hexe Ježibaba, und herrliche, nie selbstzweckartig eingesetzte Videoanimationen gestalten eine Bühne voll natürlicher Anmut. Doch wird das Zauberreich der Ježibaba nicht etwa liebevoll verklärt; vielmehr zeigt sich auch die Brutalität dieser Welt durch schwarze, furchteinflößende Helfer, die den Zauber an Rusalka – die Schwanzflosse wird durchtrennt zu Beinen – durch ganz tatsächliches Bühnengeschehen. Anmut und punktuell offensiver Naturalismus liegen eng zusammen – und damit ganz im Grimm’schen Sinne!
Wenn sich doch in der späteren tschechischen Märchenfilmkultur die Musikqualität auf diesem Niveau gehalten hätte… denn Dvořáks Musik ist hinreißend! Und unter Leitung von Musikdirektor Giampaolo Bisanti kommt sie zur vollen Entfaltung. Dafür scheinen die Voraussetzung des Hauses in der wallonischen Hauptstadt – zumindest aus dem Parkett heraus gehört – durchaus herausfordernd zu sein. Denn während die Handlung der Rusalka schon weit ins 20. Jahrhundert weist, ist die Musik noch ganz der Spätromantik verhaftet. Und diese Musik trifft in Lüttich auf eine wahnsinnig trockene Akustik, die in der Ouvertüre irritiert und ein zu akademisches Klangbild provoziert. Doch Bisanti und seinem vorzüglichen Orchester gelingt es im Laufe des Abends immer mehr, einen nie dicken, dennoch aber wirklich großen Klang zu entwickeln, der jene spätromantisch-wagnerianische Sogkraft auf das Herrlichste mit dem so charakteristischen „Dvořák-Sound“ zusammenbringt.
Von einer solchen klanglichen Größe ist die Stimme Corinne Winters an diesem Abend nicht. Ihre Rusalka ist verletzlich. Das passt wunderbar zu Figur und Musik, wenn auch zuweilen manche großen Bögen offenbleiben.
Die US-Amerikanerin ist dennoch als Rusalka – vor allem auch schauspielerisch – von vorzüglicher Qualität. Doch womöglich hat die doch eigentlich dramatisch veranlagte Stimme sich zu sehr als gesanglicher Gegenpart zur fremden Fürstin verstehen wollen. Als diese ist Jana Kurucová ein Highlight des Abends. Anton Rositsky, als zwischen den Damen im zweiten Akt hin- und hergerissener Prinz, spielt seinen eindringlichen und dennoch lyrischen Tenor in den entscheidenden Stellen groß aus. Zuweilen wirkt es jedoch so, als würde der Russe gar zu vorsichtig disponieren.
Es gelingt so musikalisch ein wunderbarer, im doppelten Wortsinn märchenhafter Abend. Über diese Neuproduktion darf man sich wirklich freuen. Und noch mehr darf man sich freuen, dass man in Bezug auf solch gelungene, vor allem auch sinnlich schöne Inszenierungen doch nicht immer nur sagen muss: „Es war einmal…“
Willi Patzelt, 27. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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