Bregenzer Festspiele (Foto, ©), 21. Juli 2021
Arrigo Boito, Nero
von Dr. Charles E. Ritterband
Neben den Publikumsmagneten vom Kaliber eines „Rigoletto“, der „Zauberflöte“, der „Aida“ oder der „Carmen“ auf der Seebühne leisten sich die Bregenzer Festspiele – neben Salzburg das führende Kulturereignis der Nation – den Luxus, im Festspielhaus nebenan dem Publikum unbekanntere, aber dennoch großkalibrige Opern zu präsentieren. So wurde 2010 Mieczysław Weinbergs KZ-Drama „Die Passagierin“ in Bregenz szenisch uraufgeführt, 2017 Rossinis „Mosè in Egitto“ (mit der berühmten „Preghiera“, dem wunderschönen Gebet) und 2019 Jules Massenets „Don Quichotte“ auf die geräumige Bühne des Festspielhauses mit seiner exzellenten Akustik gebracht. Bereits 2016 hatten hier die Bregenzer Festspiele als Pionierleistung erstmals die Oper „Amleto“ (Hamlet) aufgeführt, zu der Boito zwar nicht die Musik (das war Franco Faccio), aber, als bewährter Librettist, den Text geschrieben hatte. Boito gehörte der antibürgerlichen Mailänder Dichtergruppe der „Scapigliatura“ oder „Strubbelköpfe“ (1860-1880) an, die revoltierend gegen die traditionelle Literatur des Schönen, Edlen und Guten sich den Aspekten des Hässlichen, Bösen und Abstoßenden zugewandt hatte. Boitos große Oper „Nerone“ liegt ganz in diesem Trend.
Dieses Jahr wagten sich die Bregenzer Festspiele an Arrigo Boitos pompöse Oper „Nero“, die dieser als „Opus Magnum“, als Meisterwerk konzipiert hatte, welche sein gesamtes literarisches und musikalisches Schaffen gleichsam zusammenfassen und kulminieren sollte. Boito ist heute in erster Linie Librettist Giuseppe Verdis („Otello“, „Falstaff“) sowie als Übersetzer von Wagner-Opern ins Italienische bekannt. Als Übersetzer trug er wesentlich zur Verbreitung der Werke Carl Maria von Webers, Wagners, und ironischerweise auch Giacomo Meyerbeers (der ja Wagner aus Neid und Missgunst zu seinem vor Antisemitismus geifernden Traktat „Das Judentum in der Musik“ veranlasst hatte).
Ein großer Wurf ist definitiv Boitos einzige vollendete Oper „Mefistofele“ (1868 an der Mailänder Scala uraufgeführt) – diese durfte selbstverständlich weder in meinem Vinyl-Plattenarchiv noch in meiner CD-Kollektion fehlen. Boitos unvollendetes Werk „Nerone“ hatte er 1862 begonnen – viel später, 1924, wurde es in einer bearbeiteten Fassung (mit Arturo Toscanini am Pult, immerhin) an der Scala uraufgeführt. Eine kleine Pointe am Rande: Während – nach einjähriger Covid-Unterbrechung – der höchst originelle „Rigoletto“ auf der Seebühne wieder aufgenommen wird, entdecken wir in Arrigo Boito’s künstlerischem Lebenslauf eine unerwartete Vignette – mit neun Jahren hatte Boito 1852 eine Polka (!) auf den Gassenhauer „La donna è mobile“, die große Tenorarie des Herzogs aus dem „Rigoletto“ komponiert…
Nun, trotz überwältigenden Orchester-Partien (die streckenweise Erinnerungen an damals verehrten Wagner wecken) und gewaltigen Chor-Einlagen wurde Boitos intendiertes Meisterwerk mit seinen heutzutage nur schwer verdaulichen religiösen Aspekten nicht zu dem, was sich der Meister erhofft hatte: Es wird, nicht nur wegen des erforderlichen Aufwands an Sängern und Chören (hervorragend: Der Prager Philharmonische Chor), praktisch nicht mehr gespielt. Mit gutem Grund: Diese Oper tönt zwar überwältigend, doch gibt es keine Melodien, an denen man sich als Zuhörer wirklich festzuhalten vermag.
Die Wiener Symphoniker wurden unter der Stabführung von Dirk Kaftan der anspruchsvollen Partitur voll gerecht und die Sängerinnen und Sänger boten Höchstleistungen. Rom steht in Flammen, die blutüberströmten Leichen häufen sich auf der Bühne (ausgezeichnet: Frank Philipp Schlössmanns stilisiert-ästhetisches Bühnenbild mit weißen, oder beim Brand Roms, roten Lichtsäulen in perfekter Harmonie zu den Kostümen von Gesine Völlm), Nero lädt in seiner blutrünstigen Skrupellosigkeit Schuld auf Schuld auf sich. Und dennoch lässt einen das Ganze, überwältigt und überfordert wie man in dreistündigem sehr lautem Musikdrama nun einmal ist, trotz unerträglicher Hitze im Bühnengeschehen irgendwie kalt. „Too much“ seufzten manche Kritiker nach dieser auch die Zuschauer gehörig fordernden Premiere. Der mexikanische Tenor Rafael Rojas glänzte durch stimmliche Stärke und Wohlklang, ebenso sein Gegenspieler, der Jesus-Lookalike Fanuèl (Brett Polegato). Stimmlich bemerkenswert auch die Asteria der Svetlana Aksenova.
Dr. Charles E. Ritterband, 22. Juli 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Inszenierung: Olivier Tambosi
Bühne: Frank Philipp Schlössmann
Kostüme: Gesine Völlm
Nerone: Rafael Rojas
Fanuèl: Brett Polegato
Simone Mago: Lucio Gallo
Asteria: Svetlana Aksenova
Rubria: Alessandra Volpe
Tigellono: Miklós Sebestyén
Gobrias: Taylan Reinha
Dositèo: llya Kutyukhin
Prager Philharmonischer Chor
Wiener Symphoniker