Camilla Nylund © Anna S
Camilla Nylund lebt und atmet Richard Strauss. Man kann sie vermutlich nachts wecken, sie wird aus dem Stand ein Strauss-Lied singen und damit zu Tränen rühren. Ihre Stimme ist unverändert frisch und damenhaft, ohne jemals angestrengt zu wirken. Und, Nylund kennt nicht nur den Unterschied zwischen Oper und Lied. Sondern auch die Gemeinsamkeiten.
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Stefan Vladar / Dirigent
Camilla Nylund / Sopran
Johannes Brahms / Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81
Richard Strauss / Vier letzte Lieder für Sopran und Orchester op. posth.
Johannes Brahms / Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90
Musik- und Kongresshalle, Lübeck, 15. Dezember 2024
von Jörn Schmidt
Auf der Opernbühne stirbt es sich dramatisch. Wobei der Tod zugleich das Ende der Oper markiert. In Richard Strauss’ letzten Orchesterwerk ist der Tod dagegen der Ausgangspunkt. Wie in der christlichen Eschatologie. Dort beginnt die Ordnung der Vier letzten Dinge mit dem Tod. Gefolgt vom Jüngsten Gericht, Himmel und beziehungsweise oder, wenn es schlecht läuft, Hölle.
Wie Camilla Nylund auf ein versöhnliches Ende zusteuert, ist so intelligent wie berührend intim. Im Grunde beispiellos großartig, so dass ich mich gewundert habe, wieso mich die Lieder nicht zu Tränen gerührt haben. Die Antwort gab der Einstieg in die Matinee. Stefan Vladar hatte die Tragische Ouvertüre von Johannes Brahms gewählt.
Wenn man so will ist die Tragische Ouvertüre die traurige Schwester der Akademischen Festouvertüre. Oder, mit den Worten des Komponisten: „die eine lacht, die andere weint“. Allein, Vladar ging einen anderen Weg: Schnell die Tempi, schroff und doch hell die Klangfarben. Nachgerade schmissig geriet das Werk. Zugegeben, das klang großartig. Aber nicht tragisch.
Beim Hauptwerk nach der Pause, der dritten Sinfonie von Johannes Brahms, funktionierte dieser Ansatz phantastisch. Die dem Werk oftmals angedichtete Waldidylle – wie weggepustet dank schroffer Klanglichkeit. Die herrlich-lyrischen Melodien, die zuweilen fast schon schlagerhaft geraten – gekonnt gerockt dank straffer Rhythmik. Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck schreibt seine Brahms-Tradition inspiriert fort.
Aber was bei Brahms funktioniert, taugt bei den Vier letzten Liedern noch lange nicht. Bei Strauss gibt es keinen Postkartenkitsch, den es zu entstauben gilt. Sondern Todesnähe in jeweils unterschiedlichem Kontext. Glückliche Zeiten passieren Revue, im nächsten Moment lässt die Musik erschaudern.
Nylund machte all dies hörbar, anders als das Orchester – kaum spätromantische Klangfülle dort, auch kein sehnsüchtiges Grollen. Dem ersten Lied Frühling stand das noch ausnehmend gut. Die Natur blüht auf. Zunächst noch zart, dann keck und schließlich ein farbiger Rausch. Bei günstiger Witterung geht das rasend schnell, überall helle Farben. So darf man das auch dirigieren.
Schon das zweite Lied September hätte ein ganz anderes Klanggewand erfordert. Bei Vladar indes klang der Herbst nach Frühling. Ebenso Beim Schlafengehen. Der Schlaf muss transzendent klingen, als ob er in den Tod übergeht. Bei Vladar meinte man, den süßen Schlaf der Gerechten zu träumen. Das letzte Lied, Im Abendrot. Hier schien dem Orchester der Kontrast aus Glut und Grübelei bei Strafe verboten.
Stefan Vladar hat die letzten Jahre in Lübeck mit Salome und Elektra unter Beweis gestellt: Er ist ohne Zweifel ein anerkannter Strauss-Dirigent. Warum dann dieser luzide Ansatz? Die Antwort liegt auf der Hand. Für Vladar ist ein Lied keine Oper, die dramatisch daherkommt. Zart und innig, so muss ein Lied klingen.
Allein, Vladar hat diesen Auftrag zu konsequent umgesetzt. Oder, mit den Worten von Camilla Nylund (bei BR Klassik): „Die Strauss-Lieder sind kleine Miniatur-Opern.“ Bei Liedern für Singstimme und Klavier spricht man oft von Klavierbegleitung. Ich fand schon immer, dass Begleitung in diesem Kontext zu sehr nach Nebenrolle klingt. Aber der Begriff hat sich eben eingebürgert.
In der Oper redet niemand von Orchesterbegleitung. Prima la musica, dopo le parole wird dort statt dessen leidenschaftlich diskutiert. Wobei es nicht die eine Antwort gibt. Große Orchester und Sänger streiten allabendlich um jeden Zentimeter Deutungshoheit. Da gibt es jedes Mal neue Gewinner.
Wenn man so will, hat Stefan Vladar die Vier letzten Lieder vakuumverpackt, als ob er Nylunds Lübecker Auftritt für die Ewigkeit konservieren wollte. Das Orchester hat Camilla Nylund zugewandt und mit viel Bewunderung begleitet. Anders als ein gutes Opernorchester hat man sich eigene Akzente versagt und damit alle vermeintlich schädlichen Einflüsse von außen von ihrem Sopran ferngehalten. Was vollkommen unnötig war, selbst einen klitzekleinen Frosch im Hals hat die Finnin elegant weggehustet.
Jörn Schmidt, 16. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at