Tobias Kratzer © Falk Wenzel
In der Regel gehe ich nicht in die Oper, um dort rumzuknutschen. Sondern um zu sehen, wie sich andere küssen. In der Operngeschichte gibt es da viele Varianten. Man denke nur an Salome: „Ah! Ich habe deinen Mund geküsst, Jochanaan.“ Es gibt sogar eine Oper, die so heißt. Der Kuß (Hubička) von Bedřich Smetana.
Robert Schumann // Das Paradies und die Peri
Tobias Kratzer // Inszenierung
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Omer Meir Wellber // Dirigent
Hamburgische Staatsoper, 3. Oktober 2025
von Jörn Schmidt
Bei Sportevents in den USA und neuerdings auch in Rockkonzerten geht’s schon mal anders zu. Da haben sich sog. Kiss Cams eingebürgert. Das sind Kameras, die mit gezielter Kameraführung auf das Publikum gerichtet sind und vorzugsweise Paare auf einer Großbildleinwand zeigen. Zusammen mit der plumpen Aufforderung, man möge sich unmittelbar zur Belustigung der Zuschauer küssen.
Das geht nicht immer gut aus, fragen Sie mal Andy Byron, wie sich sein Leben nach dem Besuch eines Coldplay-Konzerts verändert hat. Obwohl, in der Schweizer Blick war am 3. Oktober 2025 online zu lesen, er habe sich zwischenzeitlich wieder mit seiner Ehefrau versöhnt. Die hatte zuvor dank Kiss Cam von der Affäre ihres Gatten erfahren.
Ob sich Tobias Kratzer dadurch zu dem Konzept „Die Bühne blickt zurück“ inspirieren ließ, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls nutzt seine Inszenierung diese Technik. Bereits vor Beginn von Schumanns genialem Oratorium
Das Paradies und die Peri werden Zuschauer auf die Bühne projiziert.
Einige davon Statisten, die Rollen zu spielen hatten. Ein saturiert wirkender Herr stellte sich schlafend, eine Dame wiederum verließ schimpfend den Saal. Es wurden aber auch zahlende Gäste gezeigt, ihre Mimik war erkennbar.
Und da liegt das Problem. Zwar ist in den AGB (Allgemeine Geschäftsbedingungen) der Hamburgischen Staatsoper unter Ziffer 17 geregelt:
„Für den Fall, dass während einer öffentlichen Vorstellung Bild- und/oder Tonaufnahmen der Veranstaltung von dazu ermächtigten Personen durchgeführt werden, erklären sich die Besucher mit dem Erwerb der Eintrittskarte damit einverstanden, dass sie eventuell in Bild und/oder Wort aufgenommen werden und diese Aufzeichnungen ohne Anspruch auf Vergütung veröffentlicht bzw. verwertet werden dürfen.“
Es ist indes keineswegs sicher, dass dadurch der Einsatz von Kiss Cams gedeckt ist. Auch ein freundlicher, aber allgemein gehaltener Hinweis auf den Kiss Cam Einsatz beim Betreten der Oper kann nicht als aktive, vorherige, freiwillige und informierte Einwilligung gelten, auf die Bühne projiziert zu werden.
Ich möchte hier nicht mit Juristendeutsch langweilen. Und auch nicht alle einschlägigen Normen durchdeklinieren. Daher vereinfache ich stark, was man im Schrifttum zur Wirksamkeit solcher Klauseln findet.
So lange Sie zufällig in einer Aufnahme auftauchen, sozusagen als Beiwerk, ist das noch fein. Wenn sich die Aufnahme dagegen auf Sie fokussiert, z.B. um Ihre Emotionen einzufangen, dann ist das hochproblematisch. Selbst dann, wenn die Aufnahme nicht dauerhaft gespeichert wird.
Dabei dürfte es keinen Unterschied machen, ob Sie sich gerade küssen, gähnen oder zu Tränen gerührt sind. Derlei Privates gehört nicht auf die Bühne, weil schnell mal bloßstellend. Auch nicht, wenn Sie damit Teil der Inszenierung werden. An deren kommerzieller Verwertung sind Sie ja auch nicht beteiligt.
Muss Tobias Kratzer nun ins Gefängnis wegen Verstoßes gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht? Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht Schadensersatzansprüche gewärtigen? Höchst unwahrscheinlich.
Überhaupt gilt: So viele Anwälte, so viele Meinungen. So kann sich der Intendant der Hamburgischen Staatsoper auf die Meinungs- und Kunstfreiheit berufen. Aber dünnes juristisches Eis ist Kratzers Opern-Kiss-Cam allemal.
Jörn Schmidt, 4. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Robert Schumann, Das Paradies und die Peri Hamburgischen Staatsoper, 27. September 2025 Premiere
Robert Schumann, Das Paradies und die Peri Hamburgische Staatsoper, 27. September 2025, PREMIERE
Interview: kb im Gespräch mit Tobias Kratzer, Teil I Hamburgische Staatsoper, 2. Juli 2025
Interview: kb im Gespräch mit Tobias Kratzer, Teil II Hamburgische Staatsoper, 4. Juli 2025
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