Large Premiere of Ballet-Casanova © Kristaps Kalns opera.lv
Mit der Lettischen Staatsoper in Riga inszeniert eine große Bühne Kenneth Tindalls Ballett „Casanova“ in einer packenden Interpretation eines frühen Meisters der Aufmerksamkeits-Ökonomie.
Ballett „Casanova“
Choreographie Kenneth Tindall
Komponist Kerry Muzzey
Bühne und Kostüm Christopher Oram
Dramaturgie Ian Kelly
Latvijas Nacionālā Opera un Balets, Riga, 2. November 2024 PREMIERE
von Ginta Rubene & Christian Hammes
Riga… überall wehen die kaminrot-weißen Fahnen und Flaggen. In Lettland – und insbesondere in dieser Stadt – ist der November jedes Jahr jener Monat mit den meisten kulturellen Veranstaltungen.
Schließlich wird am 18. November der Tag der Ausrufung der Republik Lettland gefeiert, in 2024 zum 106. Mal. Die Straßen und Gebäude in der Hauptstadt werden prächtig geschmückt. Nicht zufällig landen leichtfüßige heitere Stoffe in dieser Zeit nicht im Premierenkalender der Lettischen Staatsoper. Und es kann auch kein Zufall sein, dass das Ballett „Casanova“ drei Tage vor der Wiederwahl Donald Trumps seine Premiere feierte. Ist Casanova doch einer der ersten Influencer seiner Zeit, eine höchst ambivalente Persönlichkeit – die am Ende auch noch ihr eigener Geschichtserzähler wird.
Mit dieser Inszenierung, die der Choreograph Kenneth Tindall zuvor bereits in kleineren Häusern brachte, nimmt sich nun die wichtigste Bühne des Stoffs an und erzwingt viele Eigenschaften, die das eigene Ballett in eine neue Dimension befördert. „Casanova“ wird als bildstarkes, vielschichtiges, stimmungsvolles und sinnliches Meisterwerk des modernen Balletts realisiert. Es gelingt, die Ambivalenz eines selbstsüchtigen Helden, der vor 300 Jahren Venedig und Paris eroberte, in eine so bezaubernde energetische Erzählung zu transformieren. Sie steckt voller Mahnmale und Parallelen zur gesellschaftlichen Textur der Gegenwart.
Natürlich erregt alleine schon der Name unseres Protagonisten Casanova die nötige Grundaufmerksamkeit. Wer kennt nicht die heiteren Mantel- und Degen- Filme, die kleinen und großen männlichen Heldengeschichten, und die überschwänglichen Erzählungen über den Weiberhelden. Doch die historische Figur Giacomo Casanova wäre nach heutigen Maßstäben ein nach Aufmerksamkeit lechzender Influencer auf allen relevanten Kanälen.
Ein maskuliner Dauersendebetrieb, und sicherlich ein Lebenskünstler, der sich nach jedem Fall gerne von wohlhabenden Gönnern auffangen und wiederentdecken lässt. Und so vielfältig sein berufliches Schaffen und seine für damalige Verhältnisse höchst internationale Präsenz an allen wichtigen Höfen und Gesellschaften einzuschätzen ist, so wenig ist ihm am Schluss von seinem Ruhm geblieben. Am Ende muss er seine eigene Geschichtsschreibung selbst übernehmen. Und nur der Oberflächlichkeit seiner Bewunderer der Nachwelt ist es zu verdanken, dass die Figur des Casanova in jenem grellen Licht steht, dass man ihn fast ausschließlich mit seinen billigen Adaptionen verbindet.
Dass nun eine ernsthafte Ballettinszenierung seinen Stoff aufgreift, und dem Publikum zunächst erwartungsgemäß seine Eroberungskünste, sein Glück bei Geldgebern und seine wachsende Hybris präsentiert, um dann aber die Wertlosigkeit all dieser Errungenschaften zu erzählen, ist eine in jeder Hinsicht überraschende Zerreißprobe für Bühne, Ensemble und Publikum.
Die Lettische Nationaloper ist für dieses Experiment der richtige Ort – verbindet sie doch die lettische familiäre Wärme mit der mutigen Kreativität einer Bühne, die oft und zu Unrecht hinter den ganz großen europäischen Häusern erst in zweiter Reihe genannt wird. Die klassische Erzählweise der großen Ballett- und Opernstoffe beherrscht Riga, oft gespickt mit augenzwinkernden heiteren Momenten und der Zuverlässigkeit eines herzlich erzählten Standardwerks, das man schon mehrfach gesehen hat, und das den Zuschauer nie enttäuscht.
Doch all dies ist die Casanova-Inszenierung nicht. Sie stellt sich gegen den bunten Kitsch, der allgemeinhin mit der historischen Figur in Verbindung gebracht wird. Sie erzählt eine Figur, die in modernen – nicht zu reduzierten Bildern – durch eine Welt tanzt, die immer etwas Düsteres, Geheimnisvolles bereithält, und die choreographisch facettenreicher kaum geschildert werden kann.
In den herausragend arrangierten Kostümen von Christoper Oram wird der Erzählung eine unerwartete Färbung und Interpretation der Welt von vor 300 Jahren geben. Nichts davon kann der regelmäßige Besucher der Lettischen Nationaloper erwarten. Weder den neuen Stoff, der alles andere als ein Standardwerk ist. Noch die schlaue und emotionale, zuweilen äußerst sinnliche Choreographie im kongenialen Zusammenspiel mit Licht und Kostümen – all das versetzt in Staunen. Über den Mut, aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der das Ensemble der Lettischen Nationaloper einen ganz eigenen Weg geht.
Allen voran hat in der Premiere Antons Freimans in der Figur des Casanova eine fast ununterbrochene herausragende Dauerleistung geboten. Freimans ist fast immer auf der Bühne aktiv, während seine Partnerinnen erwartungsgemäß wechseln. Und er kann zum Ende sogar seine unausweichliche körperliche Erschöpfung in die fruchtlose und emotionale Leere seiner Rolle legen – niemanden kann diese Intensität kalt lassen.
Auch die Musik von Kerry Muzzey geht einen eigenen Weg. Sie legt einen konstanten Schleier aus Düsterkeit um die Handlung und verlässt das klassische Genre, sie bleibt nicht bei Zitaten der Musik, die vor 300 Jahren in Venedig oder Paris gespielt wurde. Vielmehr klingt sie wie eine meist unaufdringliche klassische Filmmusik, in der die Bläser und das Glockenspiel eine ungewöhnliche Hauptrolle einnehmen dürfen. In dieser Tonalität findet man die Klanggebung der ersten orchestral geprägten Instrumentalstücke von Mike Oldfield wieder, manchmal könnte in dramatischen Momenten auch ein Hitchcock-Thriller untermalt worden sein.
Nur gelegentlich bricht das Orchester aus diesem Rahmen aus, um tatsächlich für Casanova zeitgenössische Elemente anklingen zu lassen. Und auch auf der musikalischen Ebene wird somit auf Erwartbares verzichtet. Das Orchester muss sich in der Wahrnehmung hinter die tänzerische Leistung und die Choreographie aller Figuren, deren erzählreichen Kostüme und dem Lichtspiel des brillanten Bühnenbilds einreihen.
Eine Premiere in der Lettischen Nationaloper in Riga ist wie überall ein pulsierendes aufregendes Erlebnis, sie strahlt aber gleichzeitig auch die für das Haus typische Wärme aus.
Die geladenen Gäste und die zahlenden Zuschauer zeigen sich vor dem ersten Akt offen und neugierig. Nach dem – für rigaische Verhältnisse – opulenten Schlussapplaus verlässt niemand ohne ein Lächeln und ein würdigendes Nicken den Saal.
Riga hat am 2. November 2024 die Geburtsstunde einer modernen Idee und einer noch mutigeren Umsetzung erlebt. Diese kraftvolle Inszenierung kann für die Lettische Nationaloper Riga zu einer Handschrift werden, die im europäischen Vergleich des modern erzählten Balletts ganz oben einzuordnen ist. Und es verwundert nicht, dass sich in den nachfolgenden Tagen diese Inszenierung in der Stadt buchstäblich genauso herumgesprochen hat, wie einst die Histörchen des Protagonisten Casanova in seinem Wirkungsradius.
Und überall wehen die kaminrot-weißen Fahnen und Flaggen. Riga, seine Bürger und seine Gäste sind in einer besonderen Stimmung. Die vielen Premieren, Konzerte, Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen rahmen den Geburtstag eines Landes ein, dessen Patriotismus auf dem lange gehegten und hart erkämpften Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit fußt. Kaum etwas kann in diesen Tagen wichtiger erscheinen.
Die erstaunliche Erzählung des Casanova macht deutlich, wie Kultur mit einer so starken Metapher vor Verblendung und Ausbeutung warnt und einen unvergesslichen Beitrag zu diesem einzigartigen Freiheitsgefühl liefert.
Diese Inszenierung und die Lettische Staatsoper laden dazu ein, bei einem Besuch in Riga seine Reisepläne mit dem Besuch einer der stets beeindruckenden Aufführungen der Lettischen Nationaloper und des Lettischen Nationalballetts zu bereichern. Diese Stunden könnten nämlich das zentrale Ereignis der Reise werden. Nirgendwo sonst wird mit so viel Verve und Energie ein unvergesslicher Abend, ein wichtiges Stück lettischer Kultur mit inspirierenden musikalischen und ästhetischen Eindrücke geschenkt.
Ginta Rubene & Christian Hammes, 20. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächsten Premieren am Lettischen Nationaltheater sind die Oper „Salome“ am 25. Februar 2025, das Ballett „La Esmeralda“ am 10. April 2025, und die Oper „Flavio“ am 18. Mai 2025.