Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
Bayreuther Festspiele 2022 – ein ganz persönlicher Rückblick (Teil 1)
von Patrik Klein
Ich gestehe aufrichtig, dass ich ein großer Liebhaber der Bayreuther Festspiele bin. Seit 1995 pilgere, wallfahre und träume ich fast jedes Jahr dorthin. Oft, weil es gelang, privat Tickets zu ergattern; in letzter Zeit häufiger als Autor für einen Kulturblog.
Parsifal mit Plácido Domingo war damals mein erstes Erlebnis auf dem Grünen Hügel. Man verstand von Domingos Gesang zwar kein einziges Wort, aber seine Bühnenpräsenz und seine ehemals kernige Tenorstimme mit dem unverkennbarem Timbre wirkte im goldenen Tempel der Wagnerakustik wie eine Offenbarung. Alles drehte sich auch um ihn. Weniger um Wagners Gesamtkunstwerk und weniger um das Bühnenweihfestspiel. Fast alle Festspielbesucher schlichen am Besetzungszettel vorbei, um sich zu vergewissern, dass er auch tatsächlich singt und nicht irgendein Ersatz. Man hörte Wortfetzen im Vorbeigehen: „Gott sei Dank! Er singt“. Das Orchester und der Chor der Bayreuther Festspiele trieben mir schon damals die Tränen in die Augen, als die Verwandlungsmusik „zum Raum wird hier die Zeit“ den Saal füllte. Das Virus gelangte in meinen Körper und Seele und breitete sich aus.
Jedes Jahr, gleich ob eine Neuinszenierung oder eine Wiederaufnahme anstand, war der Suchtfaktor größer als finanzielle Einsätze oder organisatorische Umstände. Man musste dahin. Ich musste dahin; immer wieder.
Das Niveau der Festspiele, welches heutzutage gelegentlich heftig und final in Frage gestellt wird, schaut man zum Beispiel auf die Presse des neuen Rings oder anderer Produktionen, war auch schon damals sehr durchwachsen. Ich erinnere mich an großartige Abende mit aufregender Regie, Topstars der Opernwelt und einem bestens disponierten Chor und Orchester. Es gab Vorstellungen mit halbstündigem Applaus, Bravogekreische und Fußgetrampel ebenso mit Kopfschütteln, Buhrufen und Prügelattacken. Dann war es eine musikalische und/oder szenische dem Empfinden einiger Festspielbesucher nach miese Veranstaltung, die das Ende des Grünen Hügels und allen Wagnergesanges prophezeite.
Ich erinnere mich an einen „Der fliegende Holländer“ in der Regie von Claus Guth, wo es für uns sogar Plätze in der ersten Reihe Mitte gab, die ich im Übrigen akustisch nicht empfehlen kann. Da ist Reihe 15 durchaus komfortabler. Die Regie war bestenfalls nachdenklich stimmend. Alter Ego war irgendwie aus der Mode gekommen und nervte nur noch. Der Regisseur hatte das wohl noch nicht wahrgenommen. Die Besetzung war schlicht eine Katastrophe. Noch nie hatte ich eine so schlechte Senta erlebt (selbst in Hamburg nicht). Die übrigen Sängerinnen und Sänger taten sicher ihr Bestes, waren aber maximal auf Stadttheaterniveau (nebenbei: nichts gegen Stadttheater – im Gegenteil – dort ist das Preis-Genussverhältnis oft unschlagbar). Chor und Orchester dagegen in Festspiellaune. Und man hatte ja tags darauf noch weitere Tickets und wurde doch irgendwie belohnt.
Seit einigen Jahren wird das Ende der Festspiele durch anhaltend schlechte Inszenierungen von „Jungspunden“, die keine Ahnung haben, mittelmäßigen Besetzungen, unbekannten Dirigenten und widrigen Umstände in der modernen, immer mehr nach Sensationen gierenden Medienlandschaft heraufbeschworen. „Der schlechteste Ring aller Zeiten“, „Das längste Buhkonzert in Bayreuth seit 1876“, „Die schwächste Festspielleitung seit Richard Wagner, die Bayreuth zerstören will“ und Vieles mehr noch könnte man hier aufführen. Manche Headline stammt von Journalisten, die noch nicht einmal in Bayreuth vor Ort waren, aber dennoch solche Superlative großzügig unter die Leserschaft bringen müssen.
Bayreuth war schon immer reine Magie. Ein Ort der Pilgerschaft. Ein Ort der Konzentration. Ein Ort der Diskussion. Ein Ort, sich zur Schau zu stellen und auf „den Putz zu hauen“. Ein Ort, der nicht eine Sekunde ablenkt vom Werk des Meisters. Was kann man in dem beschaulichen Ort Bayreuth in Oberfranken denn noch tun, außer sich mit dem Werk Richard Wagners zu befassen? „Frei im wollen, frei im thun, frei im genießen“ ist das Motto.
Bei allen bisherigen Kritiken, Reaktionen von Freunden und Bekannten könnte man fast zu der Meinung kommen, seine Tickets für den neuen Ring des Nibelungen zurückzugeben, denn was erwartet einen schon außer einem völligen Regie- und Musikdesaster? Selbst nach dem Anschauen der im Fernsehen übertragenen Götterdämmerung, die viele Fragen auch bei mir aufkommen ließ, stieg die Lust auf knapp 600km Autofahrt von Hamburg in den Süden dennoch erheblich.
Bayreuth wartete mit dem dritten Zyklus des Ring des Nibelungen (meist nehme ich Tickets der letzten Vorstellungen/Dernièren, denn dann ist die mögliche Aufregung abgeebbt, die musikalische Leistung am besten und die Leute vor Ort am angenehmsten), dem Fliegenden Holländer, dem Abschlusskonzert der Festspiele und vielen Freunden und Bekannten. Ja, das ist Bayreuth. Ja, das war Bayreuth 2022. Wieder reinste Magie.
Nach dem „rosalie-„, „Tankred Dorst-„und „Frank Castorf-“ Ring nun in diesem Jahr mein vierter in Bayreuth, der von Valentin Schwarz. Als Wagnerianer darf man sich ja erst nach fünf Ringen schimpfen. Das könnte dann im Jubiläumsjahr 2026 vielleicht der Fall werden.
Es gab dieses Corona bedingt um 2 Jahre verspätete monströse, fast sechzehn Stunden dauernde, monumentale und hochpolitische Werk aus dem 19. Jahrhundert, in dem der Librettist und Meisterkomponist die Unvereinbarkeit von Macht und Liebe im „Das Rheingold„, „Die Walküre„, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ zelebriert und dabei Unterwelt, Menschen und Götter um die Macht auf Erden streiten lässt, die konzentriert ist auf einen goldenen Ring.
Der junge Österreicher nahm diesem Werk jeden Mythos und jede Mystik und beschränkte sich auf die Erzählung von einer durch und durch üblen Großfamilie, die sich selbst zu Grunde richtete. Dabei versuchte er, durch viele neue Bezüge, eingefügte Charaktere und ungewöhnliche Personenführung Neugier auf die Weiterentwicklung der Geschichte von Werk zu Werk zu erzeugen, ähnlich einer mehrteiligen Fernsehserie. Das Publikum wurde durch viele Fragestellungen irgendwie immer bei der Stange gehalten, fragend, suchend nach Sinn und Bedeutung. Die vielen aufgestauten Rätsel lösten sich am Ende jedoch nicht vollständig oder warfen damit an anderer Stelle noch mehr Fragen auf. Die „Werkstatt Bayreuth“ wird in den kommenden vier Jahren noch einiges erarbeiten müssen, ganz wie es der Meister forderte.
Im Rheingold gefiel mir die neue Sichtweise zunächst schon. Alberich und Wotan waren einander hassende Zwillingsbrüder. Die Rheintöchter fungierten als Wotans Bedienstete. Statt goldenem Ring ein rotzfrecher, asozialer Junge (Sohn des Clanchefs Wotan und später bei Fafner als Hagen geoutet), der seine ganze Umwelt nervte und tyrannisierte. Der Schatz des Nibelungen mutierte zur Kinderkrippe. Alberich plante aus Rache, den Zögling zu entführen. Der Kampf um diesen scheinbar machtverheißenden Knaben trieb die Handlung der Tetralogie an. Der junge Hagen und Siegfried ermordeten gemeinsam den Ziehvater Mime. Brünnhildes Pferd Grane wurde zur stummen sie begleitenden Figur. Die Zukunft der Familienwelt ohne den entmachteten Wotan sollte nur Siegfried und Brünnhilde gehören. Die beiden zeugten ein Kind, welches von den Nornen entführt und sich zum Spielball in der Götterdämmerung entwickelte. Alle wollten den nun neuen „Ring“ besitzen. Die dreistufige Welt Wagners wurde eingedampft auf eine hochkomplexe, schicksalsträchtige Familienstruktur, in der alle Untugenden und Grundübel des Menschseins, ganz wie im Buddhismus (Dummheit, Hass, Gier und Neid) im Zentrum stehend vereint sind. Mit Kurzweile, Witz, gelegentlichem Slapstick, Fantasie und vielen dem Betrachter (noch?) erscheinenden Ungereimtheiten erzählte Valentin Schwarz seine Geschichte, seine Weltsichtweise, seinen wenig politischen und wenig tiefenpsychologischen Ring. Das Enttäuschende war einzig am Ende der Tetralogie, das zwar durch die Symbolik der vereinten Föten ein Hoffnungsschimmer erzeugt werden sollte, aber die vielen Ideen und Handlungsstränge des bisher Geschehenen nur unzureichend aufgelöst wurden; ein wenig wie ein „Koitus interruptus„.
Im zweiten Teil meines Artikels stehen die Musik, die erzeugte emotionale Wirkung der Aufführungen und einige Besonderheiten von Bayreuth im Fokus meiner Betrachtungen. Lassen Sie sich gerne überraschen.
Patrik Klein, 31. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Hallo Herr Klein – schön, dass Sie uns erklärt haben, was sich der diesjährige Regisseur des „Ring“ bei seiner Inszenierung zusammen gedacht hat. Ist dieses Konzept unvermittelt zu verstehen, ohne sich vorher darüber informiert zu haben? Das dürfte unmöglich sein, dafür ist es im Detail zu verworren und rätselhaft. In Zukunft sollte der jeweilige Dramaturg in einer Einführung das Regiekonzept erläutern – wie es auch an den Schauspielhäusern inzwischen üblich ist. Dann weiß man wenigstens, was einen erwartet!
Timm Zorn
Hallo Herr Zorn, danke für die Anregung. Der Dramaturg der Produktion hatte vor jeder Vorstellung genau das getan. Es waren sogar Fragen zugelassen. Man hatte also schon Gelegenheit, sich zu informieren. Ob Regisseure ihr Anliegen aber leichter „rüberbringen“ sollten, steht auf einem anderen Blatt. Auch das wurde auf dem Grünen Hügel leidenschaftlich diskutiert.
Beste Grüße
Patrik Klein
Ich war vor Ort und trotz eingehenden Studiums der Inszenierung nicht fähig, die „Geschichte“ zu verstehen. Vieles war nicht zu Ende gedacht, unlogisch, unrund. Der Text passte nicht zu dem, was auf der Bühne passierte. Und ich bin sehr aufgeschlossen, mir gefiel der Castorf-Ring sehr gut. Schade!
Bernd Albrecht
Keine Erklärung macht aus Unsinn Sinn!!
Kaspar Stalder
Schwacher Kurzbeitrag, Herr Stalder.
Thomas Renger