Foto: Rainer Trost (Gustav von Aschenbach), © Johannes Ifkovits
Wiener Volksoper, 17. Mai 2022
Benjamin Britten: Der Tod in Venedig, Oper in zwei Akten, Libretto von Myfanwy Piper nach der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann
Orchester, Chor, Komparserie und Kinderkomparserie der Volksoper Wien
Wiener Staatsballett
Ballettakademie der Wiener Staatsoper
Katharina Müllner, Dirigentin
von Julia Lenart
David McVicars textnahe Inszenierung von Benjamin Brittens letzter Oper „Death in Venice“ spielt in Koproduktion mit dem Royal Opera House in deutscher Übersetzung an der Volksoper. Die zweite Vorstellung, die beinahe aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls des Dirigenten Gerrit Prießnitz abgesagt worden war, überzeugte mit solider Leistung und endete mit der Verleihung des Titels Kammersänger an Martin Winkler.
Wenn Volksopern-Direktor Robert Meyer vor der Aufführung persönlich auf die Bühne kommt, macht man sich Sorgen um den reibungslosen Ablauf dessen, was kommen wird. Die schlechte Nachricht: Der Dirigent Gerrit Prießnitz fällt krankheitsbedingt aus. Die gute Nachricht: Spontan springt Katharina Müllner als Dirigentin ein, die so ihr unerwartetes Volksoperndebut erlebt.
Wir begegnen dem Schriftsteller Gustav von Aschenbach zunächst in seinem Büro. Er hadert mit anhaltender Inspirationslosigkeit und Schreibblockaden, stürmt verzweifelt aus dem Haus und trifft auf die seltsame Gestalt eines Reisenden. Es ist die erste von vielen merkwürdigen und zugleich schicksalskündenden Begegnungen mit der in verschiedenen Formen auftretenden Figur. Martin Winkler beweist nicht nur sängerisches Können, sondern auch schauspielerische Vielseitigkeit, wenn er mal als Reisender, als ältlicher Geck, als Gondoliere oder als Hoteldirektor in Erscheinung tritt.
Von dieser ersten Begegnung inspiriert, beschließt Aschenbach, nach Venedig zu reisen. Wir begleiten ihn zwischen monologischen Reflexionen im scheinbaren Nichts des tiefschwarzen Bühnenhintergrundes und einprägsamen Begegnungen zum Sehnsuchtsort Venedig, der „Serenissima“. Spätestens bei der Gondelfahrt durch die Lagunenstadt – Aschenbach beschreibt sie gleich einer Überquerung des Styx – wird klar, dass diese Reise Aschenbachs Ende besiegeln wird.
Vicki Mortimers Bühnengestaltung wird den Anforderungen des Stückes mehr als gerecht. Nach dem Prinzip einer Guckkastenbühne funktionierend, erzeugt Mortimer Tiefenwirkung und unterstreicht die metaphorische Unendlichkeit des Meeres hinter den Lidostränden. Die beweglichen Säulen verstärken jenes klaustrophobische Gefühl, das Aschenbach in der gehetzten Stadt befällt. Die von zwei Statisten bewegte Gondel gleitet scheinbar schwebend durch die Lagune. Entscheidenden Beitrag zur Stimmungsgestaltung leistet Paule Constables Beleuchtungskonzept.
In Venedig angekommen, dauert es nicht lange, bis die eingängige Vibraphon-Melodie den jungen Tadzio vorstellt, dessen Anmut und jugendliche Schönheit den Schriftsteller sofort in den Bann ziehen. Die mythologischen Rationalisierungen des immer besessener werdenden Aschenbachs, der fortan in der ständigen Verfolgung des Jungen seinen Lebensinhalt sieht, können nicht über die problematische Tatsache hinwegtäuschen, dass sich der 50-jährige Künstler in den 14-jährigen Jungen verliebt hat.
„Der Tod in Venedig“ ist kein unproblematischer Stoff. Myfanwy Pipers Libretto zu Brittens Oper basiert auf der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann, die wohl zu einem der meistdiskutierten Stoffe der jüngeren Literaturgeschichte wurde. Die autobiografischen Bezüge scheinen offensichtlich: Thomas Mann reiste selbst nach Venedig, zu einer Zeit, als in Italien die Cholera wütete. Er traf auf eine polnische Familie und einen Jungen, von dem er anscheinend bezaubert war. Viele Interpretationen sehen hierin eine Anspielung auf Thomas Manns homosexuellen Neigungen und ziehen den Verweis zu Benjamin Brittens Homosexualität. Die idealisierte Knabenliebe, die zum Teil in einer antiken Mythologisierung Rechtfertigung sucht, bedürfen einer Problematisierung. An vielen Interpretationen stört mich, dass sie Homosexualität und Pädophilie verschmelzen – ein Vorurteil, von dem man sich seit Jahrzehnten versucht zu lösen. Das Begehren Aschenbachs ist keine idealisierte, homoerotische Fantasie, die nicht sein darf. Sie sollte vielmehr als die fragwürdige Obsession eines alten Mannes mit einem Jugendlichen verstanden werden.
In seiner verzweifelten Suche nach neuer Schaffenskraft steigert sich Aschenbach zunehmend in einen Wahn, der in Selbstzerstörung endet. Die Kulisse des choleraverseuchten Venedigs dient nicht nur als Hintergrund, sondern zugleich als Spiegel des dem Verfall geweihten Schriftstellers. Er infiziert sich, bricht in einem Strandsessel zusammen und sieht in seinen letzten Atemzügen den mit dem Meer verschmelzenden Tadzio.
Die Inszenierung lebt von den Ballettchoreografien (Lynne Page) der spielenden und wettkämpfenden Jungen am Strand. Victor Cagnin brilliert als Tänzer in der stummen Rolle des Tadzios, meisterhaft begleitet von den Tänzern des Wiener Staatsballetts. Rainer Trost gelingt eine überzeugende Interpretation des gepeinigten Schriftstellers Gustav von Aschenbach. Die Partie ist tatsächlich alles andere als einfach zu singen. Britten hatte sie seinem Lebensgefährten Peter Pears an den Leib geschrieben, der dem Komponisten oft als Inspirationsquelle für seine Gesangs- und Opernwerke diente.
Vor der Leistung Katharina Müllners, die so kurzfristig einspringt, darf man den Hut ziehen: Brittens letzte Oper ist kein Werk, das man einfach so dirigieren kann. Allerdings zeigt sich das Orchester im ersten Akt doch etwas verhalten. Einsätze sind rhythmisch und stimmlich nicht so genau und einwandfrei, wie man es sich wünschen würde. Manchmal droht das Zusammenspiel zwischen Bühne und Orchestergraben auseinanderzubrechen. Im zweiten Akt erfährt das Orchester eine angemessene Steigerung und bringt die Oper zu einem soliden Ende.
Nach dem Schlussapplaus darf das Publikum noch die Verleihung des Kammersänger-Titels an Martin Winkler mitansehen. Der Titel soll keinesfalls auf einen baldigen Pensionsantritt verweisen, sind sich Meyer und Winkler einig. Die Reden werden zum Glück kurz gehalten – man will das Publikum nach rund drei Stunden nicht noch länger in den Sitzen festhalten.
Julia Lenart, 18. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
David McVicar, Regie
Greg Eldridge, Regiemitarbeit
Vicki Mortimer, Bühnenbild und Kostüme
Lynn Page, Choreographie
Gareth Mole, Choreographische Mitarbeit
Paule Constable, Licht
Holger Kristen, Choreinstudierung
Rainer Trost, Gustav von Aschenbach
Martin Winkler, Der Reisende
Thomas Lichtenecker, Stimme des Apollo
Victor Cagnin, Tadzio
Flavio Paciscopi, Jaschiu, Tadzios Freund
Gloria Maass, Polnische Mutter
Benjamin Britten, Death in Venice, Royal Opera House London, 21. November 2019
Daniels Anti – Klassiker 39: Benjamin Britten – War Requiem (1962), klassik-begeistert.de