Fotos: Rainer Trost als Gustav von Aschenbach, © Barbara Pálffy
Wiener Volksoper, 28. Mai 2022
Benjamin Britten: Der Tod in Venedig, Oper in zwei Akten, Libretto von Myfanwy Piper nach der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann
Orchester, Chor, Komparserie und Kinderkomparserie der Volksoper Wien
Wiener Staatsballett
Ballettakademie der Wiener Staatsoper
Gerrit Prießnitz, Dirigent
„Beobachtungen und Begegnisse eines Einsam-Stummen sind eindringlicher als die des Geselligen, seine Gedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von Traurigkeit. Bilder und Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem Lachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun wären, beschäftigen über Gebühr, vertiefen sich, werden bedeutsam.“ Diese Sätze aus der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann wollen wir als Einführung an den Beginn unsres Berichts stellen.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Eignet sich zur Dramatisierung seiner erzählenden Dichtung mehr die Gattung Film oder ein musikalisches Bühnenwerk? Zuerst nahm sich Luchino Visconti für „die siebte Kunst“ des Werks von Thomas Mann an. Fundament ist hier ebenfalls symphonische Musik, aber nach den Gesetzen eines guten Filmdramas sind die Dialoge knapper gehalten, Gestik und Mimik in Naheinstellungen und Großaufnahmen treten mehr hervor, während die Bühne bis in die jüngere Zeit ohne Videotechnik nur die Totale kannte. Bezüglich der rein choreografischen Gestaltung durch John Neumeier an der Staatsoper Hamburg verweisen wir auf die Berichte von Dr. Ralf Wegner.
Der um die Jahrtausendwende in der Wiener Staatsoper besonders als Mozarttenor bekannt gewordene Rainer Trost als Gustav von Aschenbach lässt die oben gestellte Frage nicht mehr wichtig erscheinen. Seine Gedanken in Monologform werden teils im Sprechgesang mit musikalischer Steigerung auch schauspielerisch grandios dargestellt. Ziemlich zurückhaltend die orchestrale Begleitung. Der Tenor wird oft nur vom Klavier begleitet oder besser es setzt in den Gesangspausen Interpunktionen. Zu den Rezitativen werden gleichsam Ruf- und Fragezeichen, abschließende Punkte und zusammenfassende oder schlussfolgernde Doppelpunkte gesetzt.
Bei Rainer Trosts Darstellung tauchte bei uns die Frage auf: Könnte das Werk von Thomas Mann auch als Sprechtheater Erfolg haben? Zu Zeiten eines Josef Kainz, ja sogar noch in neuerer Zeit eines Albin Skoda, den wir noch selbst erlebt hatten, pflegte man im Burgtheater einen deklamatorischen, raumfüllenden Sprechstil. Heute als übertrieben im Ausdruck angesehen muss man im Sinn eines Salonnaturalismus dafür mit Mikroports arbeiten. Dieses Problem fällt im Musiktheater weg. Hat ja auch der liturgische Gesang des Zelebranten als Ursprung die natürliche Überwindung großer Kirchenhallen.
Wir kennen aus „Hoffmanns Erzählungen“ die Widersacher des Dichters als Quadrupelpartie. Bei Britten sind es bloß denkwürdige Gestalten, die dem Schriftsteller begegnen. Es sind sieben (!) Rollen, die jedoch vom Wesen und vom Stimmcharakter her mannigfaltiger sind als bei Offenbach. Also eine große, aber interessante Herausforderung für Martin Winkler, der im Jahr 2018 an der Staatsoper in einer Ring-Staffel den Alberich sang, daneben dreimal den Rossini-Bartolo und 2013 in Bayreuth ebenfalls als Alberich auftrat.
„Der Reisende“, durch dessen Einfluss Aschenbach seine Reise unternimmt, und „der alte Gondoliere“, der ihn an den Fährmann Charon über den Totenfluss erinnert, sind von der Tessitur her Bässe ohne unter das Große A zu gehen. Der Friseur, der dem Alternden ein jugendliches Outfit gibt, ist ein Spielbariton, der Hoteldirektor wiederum lässt ein heldenbaritonales Timbre erkennen. Der Chef der Straßenmusikanten im zweiten und der ältliche Geck im ersten Akt drängen zum Falsett, wobei die Exaltiertheit des Letzteren in der Komposition anders hätte ausgedrückt werden können. Ungemein beeindruckend war Martin Winkler in seinem Auftritt als Dionysos, nachdem wir in seinem ersten und dritten Auftritt als „Reisender“ und als „alter Gondoliere“ manches Mal notwendigen Wohlklang vermissten. Entweder war der Künstler erst jetzt vollständig eingesungen oder wir haben unser Hörempfinden seinem Timbre immer mehr angepasst.
Ein ähnliches Phänomen erlebten wir bei der Stimme des Apollo. Wir sind keine Liebhaber der Stimmlage des Countertenors. Eine Ausnahme war als Ottone in „L’incoronazione di Poppea“ Xavier Sabata mit einer besonderen Wärme und Flexibilität. Mit dem Klang der Stimme des international gefragten Thomas Lichtenecker waren wir bei seinem ersten Auftritt nicht sehr glücklich. Aber in der Traumszene entstand zwischen Apollo und Dionysos, zwischen Countertenor und Bariton ein wohlklingender Synergismus.
Die Personalunion von sieben Rollen stellt einen interessanten Bravourakt dar, der Martin Winkler viel Ehre einbrachte. Sie hat aber nicht nur einen künstlerischen Zweck, sondern ist eine praktische Notwendigkeit. Welches Ensemble besitzt sieben für heikle Aufgaben geeignete Baritone. Außerdem wusste schon Richard Strauss ein Lied zu singen, dass arrivierte Sänger für kleinere Rollen wie den Bacchus in „Ariadne auf Naxos“ schwer zu begeistern sind. Wir kennen auch das Problem bei „Andrea Chénier“, wo die kleinere, aber sehr wichtige Rolle von des Dichters Freund Roucher mit einem dem Gérard gleichwertigen Bariton besetzt werden sollte.
Die Anzahl der Figuren ist ziemlich unübersichtlich. Ein Großteil der SängerInnen ist in zwei, drei Rollen eingesetzt. Die Volksoper brauchte nicht ChorsängerInnen mit solistischen Partien betrauen. Sie besitzt ein gediegenes Ensemble. Einige bekannte Namen haben wir im Trubel der Badegäste, der Touristen und der Venezianer wieder erkannt, andere und auch junge Kräfte, auf die wir immer besonders neugierig sind, mussten unwillkürlich untergehen.
Christian Drescher erfreute als markanter Hotelportier. Beim Gondoliere Daniel Ohlenschläger, früher im Ensemble der Bühne Baden unterfordert, fragten wir uns, wie er sich in den sieben Bassbaritonpartien machen würde. Ben Connor in der mittleren Partie des Reisebüroangestellten wirkte etwas schwachbrüstig, dagegen war mit mächtigem Bassbariton Yasushi Hirano ein energischer Fremdenführer. Bei David Sitka (Amerikaner, Straßensänger) war es eine Wiederbegegnung, bei Cinzia Zanovello (Spitzenverkäuferin, Straßensängerin) war es eine Erstbegegnung, wobei ihr vielgelobter Sopran an diesem Abend Härten aufwies. Besonders gefiel uns der warme und strahlende Sopran der Mara Mastalir als Erdbeerverkäuferin, deren erste Opernpartie die Mrs. Sam in der von Britten für Kinderamateure komponierte Oper „Noahs Flut“ war.
Das Orchester der Wiener Volksoper leitete Gerrit Prießnitz. Auffallend die Vielzahl der Schlaginstrumente. Wir haben vor der Vorstellung einen Blick in den Orchestergraben geworfen. Neben den Pauken sind um mehrere Sitze je eine Gruppe diverser Schlaginstrumente angeordnet, darunter neben einem Vibrafon auch Xylofone, Glockenspiele u.a.
Wir hätten nicht gedacht, dass zumindest bei unsren Parkettsitzen in der neunten Reihe der manchmal in den zwei bühnennächsten Parterre- und 1. Balkonlogen singende Chor (Einstudierung Holger Kristen) eine so gute akustische Wirkung erzielen konnte.
Regie führte David McVicar mit Assistenz von Greg Eldridge, Bühnenbild und Kostüme: Vicki Mortimer. Zu Beginn auf offener Bühne sehen wir keinen Friedhof, sondern den Schreibtisch des angesehenen Schriftstellers. Die siebzehn Szenen gehen mit dem wiederholten Wechsel vom Lido in die Lagunenstadt und zurück raffiniert ineinander über. Auch die mystische Stimmung des Meeres kann immer wieder nachempfunden werden. Vielleicht spiegelt sich der anfangs bedeckte Himmel nicht genug mit farblosem Grau auf der Oberfläche des Meeres. (Licht Paule Constable).
Tadzio ist reine Anschauung, ist sprachlos, sein Austausch geschieht nur mit Blicken und einem Lächeln. Die Choreografie (Lynne Page unter Mitarbeit von Gareth Mole) schließt Tadzios Familie, sowie Buben und Mädchen und Strandgäste mit ein. Da bestimmte tänzerische Fähigkeiten vorausgesetzt werden, hat man bei Victor Cagnin den Eindruck eines schon fortgeschrittenen Jünglings. Da hatte es das Casting beim Film leichter gehabt. Die Strandkleidung ist bei Tadzio im Widerspruch zu seiner Familie unsrer Gegenwart angepasst. Die Mutter Tadzios scheint auf der Besetzungsliste namentlich auf. Im Teatro La Fenice war der Name der sehr attraktiven Dame nur in der allgemeinen Auflistung der TänzerInnen zu finden. Unsere schriftliche Anfrage wurde mit einem Hinweis auf den Datenschutz abgewiesen.
Wie ist das Ende des Stücks zu beurteilen? Hier beendet hochaufgerichtet Tadzio vor dem in seinem Strandsessel in sich zusammengebrochenen Aschenbach seinen Tanz, während im Textbuch und in der Novelle Tadzio, „der Psychagoge Aschenbach zuwinkt, als ob er hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf ihm zu folgen.“
Kann dieses Opernwerk spontan eine Wirkung auf uns ausüben? Kann in irgendeiner, und wenn auch nur äußerlichen Form, eine Übereinstimmung zwischen Werk und Publikum bestehen? Denn der eigentliche Grund des Beifalls ist eben Sympathie. Wir leben derzeit in einer Pandemie mit seinen Unsicherheiten. Auch wir haben auf einem Fährschiff einmal die Zweifel von Passagieren mitbekommen, ob ihre verfrühte Rückfahrt vielleicht falsch war. Wir bemerkten bei Bekannten, wie Aufenthalte, seien sie in Irland oder Indien gewesen, sie veränderten.
In der zu Ende gehenden Spielzeit haben wir Abende mit den unterschiedlichsten Werken zum wiederholten Mal besucht. Werke des Belcanto, der Romantik, der Spätromantik, des Verismo und einer nicht klassifizierbaren Moderne. „Der Tod in Venedig“ bot den Höhepunkt dieser Saison.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 31. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Benjamin Britten: Der Tod in Venedig, Oper in zwei Akten Wiener Volksoper, 17. Mai 2022
Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier, Hamburg Ballett, 9. Juni 2021