John Neumeiers Ballett "Tod in Venedig" begeistert in Hamburg

Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier,  Hamburg Ballett, 9. Juni 2021

Artem Prokopchuk (Jaschu), Anna Laudere (Aschenbachs und Tadzios Mutter), Marc Jubete und Félix Paquet (Aschenbachs Begleiter), Atte Kilpinen (Tadzio), Christopher Evans (Aschenbach), Jacopo Bellussi (Tänzer Friedrich der Große), Silvia Azzoni und Alexandre Riabko (Aschenbachs Konzepte), Hélène Bouchet (Barbarina) (Foto: R. Wegner)

„Ein hingerissenes Publikum applaudierte nach längerem Stillschweigen jubelnd und ausdauernd den offensichtlich glücklichen Tänzerinnen und Tänzern, allen voran Marc Jubete, Félix Paquet und vor allem Atte Kilpinen und Christopher Evans.“

Hamburg Ballett, 9. Juni 2021
Tod in Venedig, Ballett von John Neumeier

von Ralf Wegner

Thomas Mann nannte seine Novelle aus dem Jahre 1911 die Tragödie einer Entwürdigung. Der verwitwete Schriftsteller Aschenbach, Mitte 50, verfällt am Lido von Venedig dem engelgleichen 14-jährigen Tadzio. Die Beziehung bleibt platonisch, und einseitig, und sie wird von Thomas Mann mit dem Tode bestraft. Die Cholera rafft Aschenbach dahin. Keine edle Schwindsucht, wie man beim Lesen des Novellentextes vermuten könnte, sondern von einer ganz üblen Krankheit. Der französische Autor Jean Giono hat diese andere Geißel der Menschheit in dem Roman „Der Husar auf dem Dach“ eindrucksvoll beschrieben.

Manns Novelle wirkt im Vergleich damit wie ausziselierter Edelkitsch, auch sprachlich: „Das wundervolle Ereignis erfüllte seine vom Schlaf geweihte Seele mit Andacht“ oder „Aschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen seine Lippen mit einem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im Glase funkelte“. Luchino Visconti gelang es 1971, die Schönheit und gleichzeitig das Morbide der Lagunenstadt als Metapher für den Untergang einer Zeitepoche und den geistig-seelischen Zusammenbruch eines Menschen zu verdeutlichen. Benjamin Britten machte 1973 aus Manns Thematik eine Oper, John Neumeier 2003 ein Ballett.

Was unterscheidet Neumeiers Ballett von Manns, Viscontis und Brittens Darstellung? Vor allem das Alter des angebeteten Jünglings. Neumeier setzt Tänzer ein, die von Alter und körperlicher Entwicklung her amorphen Gedanken keinen Raum lassen. Neumeiers Aschenbach ist jünger und Tadzio älter als bei Thomas Mann. Es handelte sich also um eine gesellschaftlich akzeptierte homoerotische Beziehung, die platonisch bleibt und nicht die grausame Konsequenz des Todes nach sich ziehen sollte. Die Handlung lässt sich aber auch anders lesen: Ein Mensch in einer Lebenskrise erkennt sich in einem jüngeren Ego wieder und trauert um die nicht genutzten, einstmals vor ihm liegenden Lebensperspektiven. Neumeier lässt, wie auch in anderen Balletten (Schwanensee), Interpretationsmöglichkeiten offen, die dem Zuschauer keine bestimmte Sicht aufzwängen wollen.

Der geniale Tänzer Lloyd Riggins verkörperte den Aschenbach seit 2003 (damals 34 Jahre alt), der knapp 20-jährige hochgewachsene Edvin Revazov die Rolle des Tadzio. 2009 erlebten wir beide in Venedig im Theater La Fenice, mehr oder weniger zufällig während eines Gastspiels des Hamburg Balletts. Auch Carsten Jung beeindruckte 2014 als Aschenbach, mit dem persönlichkeitsstarken Aljoscha Lenz als Tadzio. Gestern Abend tanzte der erst 26 Jahre alte Christopher Evans den Aschenbach, der nur 2 Jahre jüngere Atte Kilpinen den Tadzio.

Marc Jubete und Félix Paquet (Foto: R. Wegner)

Die Aufführung begann etwas zähfließend, Christopher Evans wirkte anfangs technisch noch unsicher und vom Charakter her nicht so schlüssig für die tragische Rolle des Aschenbach, den Neumeier nicht als Schriftsteller, sondern als Choreographen eines Friedrich der Große (Jacopo Bellussi) Balletts auftreten lässt. Die abgezirkelten Tanzschritte überzeugten offenbar nicht nur ihn nicht, sondern auch mich als Zuschauer. Immer wieder unterbrochen von tänzerisch-interpretato­rischen Glanzleistungen Anna Lauderes, die als Mutter des jungen Aschenbachs mit dem schon sprung­starken Miguel Wansing Lorrio herumtollt, eine fröhliche, fast zu intime Mutter-Sohn-Beziehung darstellend. Offensichtlich fehlt hier die Vaterfigur. Oder auch von Hélène Bouchet, die als Tänzerin Barbarina mit den ihr eigenen, unnachahmlichen Port de bras fasziniert. Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, von Neumeier als sog. Konzepte in die Handlung integriert, zeigten Präzision und technische Perfektion eines völlig aufeinander eingespielten Paares. Vor allem der Liebe suggerierende Pas de deux im zweiten Teil gelang hinreißend.

Atte Kilpinen und Christopher Evans (Foto: Kiran West)

Spannender wurde es mit dem Ende des ersten Teils, der auf dem Lido im Hotel des Bains spielt. Anna Laudere, jetzt Tadzios Mutter, kokettiert mit ihren drei Töchtern und ihrem Sohn. Aschenbach bemerkt den springlebendigen und lebenslustigen Tadzio, technisch und darstellerisch grandios von Atte Kilpinen getanzt. Artem Prokopchuk überzeugt als Tadzios Freund Jaschu. Aschenbach hat zwei Begleiter, deren Funktion sich nicht gleich erschließt. Ursprünglich waren diese Rollen mit dem Zwillingspaar Jiří und Otto Bubeníček besetzt, jetzt mit Marc Jubete und Félix Paquet. Man konnte sie sich als innere Stimme Aschenbachs vorstellen; formal verknüpften sie als Reisegenossen, venezianische Gondoliere, als fröhlich-überdrehtes schwules Tanzpaar, später als sinnlich-dionysische Verführer sowie als Friseure oder als Gitarristen die einzelnen Handlungsabschnitte wie Rezitative in der Oper.

Für die Glaubhaftigkeit der Geschichte entscheidend bleibt aber die Beziehung zwischen Aschenbach und Tadzio. Wenn auch Evans seinen Part anfangs etwas verschlossen anlegte – anders als früher Lloyd Riggins, dessen darstellerische Kraft geradezu zum Mitleiden zwang –, steigerte er sich mit der Zeit immer mehr und legte zusammen mit Kilpinen einen grandiosen, geradezu apotheotischen, emotional überwältigenden  Schluss-Pas de deux hin, in dem die beiden fast Gleichaltrigen zu Isoldes Liebestod (Klavier: Sebastian Knauer) zu ein und derselben Person verschmolzen. Evans geht in die Unendlichkeit des anderen ein, genauso wie Isolde in der Hamburger Ruth-Berghaus-Inszenierung.

Ein hingerissenes Publikum applaudierte nach längerem Stillschweigen jubelnd und ausdauernd den offensichtlich glücklichen Tänzerinnen und Tänzern, allen voran Marc Jubete, Félix Paquet und vor allem Atte Kilpinen und Christopher Evans.

Ralf Wegner, 10. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Beethoven-Projekt II, Ballett von John Neumeier,  Hamburg Ballett, 31. Mai 2021

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