Daniels Anti-Klassiker 16: Gioachino Rossini – Figaro-Arie aus „Der Barbier von Sevilla“ (1816)

Daniels Anti-Klassiker 16: Gioachino Rossini – Figaro-Arie aus „Der Barbier von Sevilla“ (1816)

Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

Was haben die Looney Tunes und eine Rossini-Oper gemeinsam? Beide können so platt sein, als hätte sie eine Dampfwalze überfahren. Zu diesem Eindruck könnte man jedenfalls gelangen, wenn man sich den „Barbier von Sevilla“ anschaut – eine klassische Komödie darüber, dass zwei Männer ein und dieselbe Frau ehelichen wollen und die „wahre Liebe“ sich am Ende nur durch Betrug und viel Hilfe von außen durchsetzen kann. Haargenau so findet man es auch im Cartoon! Trotzdem hat diese Geschichte sich irgendwie so sehr gehalten, dass der Name „Figaro“ heute noch vielen ein Begriff sein dürfte. Wie ist das gekommen?

Ein Grund dürfte sein, dass Rossini nicht der erste war, der über diesen Stoff schrieb. Die Ursprünge dieser Komödie lassen sich ins Jahr 1775 zum Schauspiel von Beaumarchais zurückverfolgen und auch Mozart hatte sich diesem Stoff in der „Hochzeit des Figaro“ bereits gewidmet. Rossini trat 1816 also in eine bestehende Tradition über die vermeintlich bunte Ehebalz im Umfeld dieser schillernden Person ein.

Zentrum von Rossinis Oper ist im Gegensatz zu Mozart allerdings nicht Figaro selbst, sondern die Liebe zwischen Graf Almaviva und seiner Angebeteten Rosina, die der argwöhnische Dr. Bartolo in seinem Gewahrsam hat. Um ihr näherzukommen ist Almaviva auf Täuschung und Verkleidung angewiesen – hier tritt Figaro selbst in Erscheinung. Er ist es, der Almaviva mal als Soldaten, mal als Musiklehrer herausputzt und ihn bei der Planung um Rosinas Flucht unterstützt. Als Bartolo ihnen auf die Schliche kommt, will er den Notar zur eiligen Eheschließung bestellen. Dies wird aber über das Gerücht vereitelt, dass der Notar gerade mit der Eheschließung von Figaros (nicht-existenter) Nichte beschäftigt wäre, sodass Almaviva den Beamten entführen lassen und unter Waffengewalt zur Eheschließung zwischen ihm und Rosina zwingen kann.

Natürlich ist diese Handlung platter als ein totgefahrenes Tier: Über so etwas hat man nun einmal im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert gelacht. Wenn man bedenkt, dass diese Oper ursprünglich zum Karneval aufgeführt wurde, entschuldigt das auch ein paar Dinge. Allzu ernst nehmen sollte man sie nicht, schließlich tut sie es selbst auch nicht.

Der ursprüngliche Titel sollte beispielsweise lauten: „Almaviva oder die nutzlose Vorsicht“. Ein Statement dafür, dass wahre Liebe immer zueinander finden würde, was sich nicht nur heutzutage an der Realität schneidet, sondern damals in einer Zeit von politischen und standesgemäß arrangierten Ehen geradezu zynisch wirkt. Es fragt ja auch keiner, ob diese unter Androhung von Gewalt geschlossene Ehe überhaupt Substanz hat. Ob Almavivas und Rosinas ursprüngliche Schwärmerei erhalten oder nach ein paar heißen Liebesnächten verloren geht. Ob die Ehe glücklich oder sogar mit Kindern erfüllt ist oder es massenhaft Affären gibt – wäre ja auch nicht mehr lustig!

Die bekannte Figaro-Arie eignet sich deshalb als Paradebeispiel für diese Art Komödie. Als gesangliche Vorstellung des Barbiers ist sie gespickt mit unglaublich schnellen Läufen. Massenhaft Triller und ausreißende melodische Figuren erzeugen zwangsläufig den Eindruck, es hier mit einem weltbewegenden Ereignis, vielleicht sogar der wichtigsten Figur der ganzen Oper zu tun zu haben. Eigentlich hat Rossini damit ein faszinierendes Werk der Instrumentationskunst geschaffen, das an einer Opernarie aber verloren wirkt. Denn immerhin soll die drängende Musik „nur“ den Gesang Figaros untermalen. Auch dieser ist höchst filigran, fast schon übertrieben kompliziert gestaltet und mit Koloraturen ausgeschmückt, die an Raffinesse nur schwer zu überbieten sind.

Doch der Text ist mit seinen einfallslosen „Lalala“ oder dem dutzendfachen „Figaro“ oberflächlich, geradezu flach. Dazu gibt er inhaltlich nur das Offensichtliche wieder, was genauso gut die Handlung oder das Bühnenbild erklären könnten. Frei übersetzt: „Macht Platz für den Diener der Stadt“… „bereit, Tag und Nacht zu arbeiten“… „niemand kann Figaro das Wasser reichen“… ja, wenn das so ist, warum reicht dann nicht die Handlung, um das zu zeigen? Wird solch eine Banalität den herausgeputzten Melodien gerecht?

Ich persönlich würde hier am liebsten jedes Mal den Sänger stummstellen und die Musik selber genießen, während uns der Barbier sein umsichtiges Treiben als agierende Person präsentiert. Selbst in einer Komödie kann man auch zu offensichtlich sein. Das Prinzip „show, don’t tell“ war damals wohl nicht so weit verbreitet? Dann wäre die Arie ja auch überflüssig.

Durch seinen nichtssagenden Charakter ist dieser Part indes perfekte Vorlage, ihn seit 1941 im Cartoon gänzlich zu demontieren. Einen besonderen Platz haben hier wohl Bugs Bunny und die Looney Tunes eingenommen – dort scheint Rossini Hauskomponist und seine Figaro-Arie das Lieblingsstück zu sein. Aber auch Tom und Jerry, Disney und andere waren sich nicht zu schade. Cartoon Network nahm diese Musik einst sogar zur Grundlage für die sendereigene Werbung, in der der Text komplett durch Namen von Zeichentrickfiguren ersetzt wurde. Ein markantes Beispiel dürfte auch der (mitunter politisch absolut inkorrekte) Magical Maestro von Tex Every sein:

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Ist solche Musik im Endeffekt also überflüssig? Der Text ist jedenfalls nicht in der Lage, die an und für sich faszinierende Musik zu bereichern, sondern reduziert sie eher. Inhaltlich bietet diese Arie kaum etwas, was nicht auch die Handlung selbst darstellen könnte. Und der Fokus auf übertrieben komplizierte Gesangskunst im Kontrast zur alltäglichen Profanität wirkt bizarr, wenn nicht sogar lächerlich. Es ist ein Erlebnis, wie ein frisch aus dem Chemielabor kommendes Erdbeereis: Aufgetakelt und optisch auf Hochglanz poliert, aber der Geschmack ist künstlich und trübt die ursprüngliche Freude.

Für mich ist dieses auf die Spitze getriebene Gehasche nach Kunstfertigkeit durch Ausreizung aufsehenerregender Effekte ohne Hintergrund, Substanz und authentisches Gefühl mitunter einer der Gründe dafür, diese Art von Musik nicht schätzen zu können. Sie steht mir viel eher distanziert als ein künstliches Objekt um seiner selbst willen gegenüber. Solch einzig auf Handwerksfertigkeit beschränkte „Kunst“-Werke können unter bestimmten Voraussetzungen vielleicht auch Bewunderung erzeugen, mir wecken sie aber die Verdrießlichkeit. Und ich weiß – ich bin nicht der einzige, dem es in meiner Generation so geht. Bleibt für sowas also nur noch der Kontext im Cartoon als authentische Stimmungswiedergabe? Es scheint so…

Daniel Janz, 11. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Daniels Anti-Klassiker 15: Wolfgang Amadeus Mozart – Rondo alla Turca („Türkischer Marsch“) aus Klaviersonate Nr. 11 (1783)

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