Foto: Bayerische Staatsoper, © W. Hoesl
Bayerische Staatsoper, München, 10. März 2022
Benjamin Britten Peter Grimes
von Frank Heublein
An diesem Abend wird in der Bayerischen Staatsoper in München Peter Grimes von Benjamin Britten aufgeführt. Peter Grimes ist Fischer und hat – fast – das ganze Dorf gegen sich. Es geht um den Tod seines Lehrjungen auf hoher See. War das Unfall? Oder hat Peter Grimes Schuld auf sich geladen? Die Gerichtsverhandlung stellt den Unfall fest. Doch sät der Richter zugleich Verdacht. Denn er rät Peter Grimes, anstatt eines Lehrjungen einen Fischer zu Hilfe zu nehmen. Was sagen die Dorfbewohner dazu? But when the crowner sits upon it, / who can dare to fix the guilt? (Aber wenn der Richter einen Beschluss fasst, / wer wagt es noch, die Schuld festzustellen?). Ich ahne Schlimmes, so wie sich die Masse zu Peter Grimes verhält: die Masse stellt die Schuld nicht fest, sie legt sie fest. Die Finger richten sich auf Peter Grimes.
Das bayerische Staatsopernorchester ist bestens disponiert. Edward Gardner schält musikalische Extreme aus der Partitur. Die Chor-Massen-Szenen unterlegt er mit auf mich wild wirkenden Orchesterphrasen. Arien und Duette dagegen werden ganz und gar a cappella gesungen oder ganz zart zurückhaltend orchestral begleitet. Häufig mit ziselierten Streichern und Harfe.
Eine Besonderheit der Oper sind die sechs symphonisch anmutenden Interludes (Zwischenspiele). Die Szenen um das letzte Interlude treffen mich musikalisch ins Mark. Die eindrucksvollste Sequenz der Aufführung. Die Dorfbewohner verkommen zum Mob, peitschen sich auf: We’ll make the murderer pay for his crime (Wir werden dem Mörder bezahlen lassen für sein Verbrechen). Der Chor, die Dorfgemeinschaft, kommt an den Bühnenrand, füllt die Bühne, ist eine Masse. Sie stoßen den Namen aus: Peter Grimes! Zeigen in alle Richtungen: Peter Grimes! Mit Generalpausen dazwischen dann auch in den Zuschauerraum hinein, der hell erleuchtet wird: Peter Grimes! Sie zeigen auf mich. Bin ich Peter Grimes? Bin ich der von der Masse Ausgestoßene? In dieser Szene wird – so empfinde ich es – die Unterstellung orchestral verdichtet, die massenhaft wiederholt zur Wahrheit dieser Masse wird. Peter Grimes ist schuldig, hat seine Lehrjungen getötet.
Das Interlude ist musikalisch konterkarierender Kontrast. Auf der Bühne verloren allein Peter Grimes. Musikalisch vernehme ich zuerst orchestrale Solostimmen. Violine. Klarinette. Mit der Oboe und Flöte setzen gläsern die Streicher ein. In deren Crescendo hinein harte Schläge des Xylophons. Die fatale Situation des Peter Grimes. Er überdenkt die Situation. Zwei Lehrjungen tot. Im Hintergrund wogt leise sich nähernd der Mob mit Peter Grimes! Rufen. Grimes singt “Accidental circumstances”… / Water will drink his sorrows – my sorrows – dry / And the tide will turn. („Unglückliche Umstände“… / Das Wasser wird seinen Kummer – meinen Kummer – aufsaugen / Und die Gezeiten ändern sich).
Ellen und Captain Balstrode, die beiden letzten, die zu Peter Grimes halten. Ellen hat Hoffnung. Balstrode nicht. Der Captain hält Ellen zurück, während er Peter anweist „Sail out till you lose sight of Moot Hall, then sink the boat. / D’you hear? Sink her. / Goodbye Peter.“ (Segle bis Du die Gemeindehalle nicht mehr siehst, dann versenk das Boot / Hörst Du? Versenk es. / Leb wohl Peter).
Peter Grimes singt Tenor Stuart Skelton lebensecht. Seine Stimme ist voller Energie. Die Schwierigkeit der Gesangspartie merke ich ihm niemals an. Ein gesanglich souveräner zudem exzellent gespielter Auftritt. Die Stimme vermittelt mir die verbohrte Überzeugtheit, sich gegen die Masse, die Gemeinde durchsetzen zu können. Den Traum, ein besseres Leben mit Ellen anfangen zu können, wenn nur der nächste große Fang eingebracht ist.
Die Rolle der Ellen Orford singt und spielt Sopran Rachel Willis-Sørensen. Nach der Pause sorgt sie mit ihrer warmen Stimme für anrührend, aufmerksame, einfühlsame, herzzerreißende Momente. Wenn sie mit dem widerwilligen verstockten Lehrjungen vor der Kirche steht. Captain Balstrode kann die Masse zuweilen in Schach halten. Bass Bariton Iain Paterson überzeugt mit stimmlicher und physischer Präsenz. Seine souveräne entschlossene Stimme vermittelt Macht.
Auch der Chor ist Hauptdarsteller. Seine Rolle ist die Masse, die sich gegen den Einzelnen, Peter Grimes vereint. Sie singen mit Maske. Das passt sinnbildlich, denn so werden die Chorsänger und Chorsängerinnen vereinheitlicht, eben ein Teil der einheitlichen Masse. Aufwallend, drängend, sich selbst aufputschend, im Hintergrund drohend. Diese musikalische Wand singt der Bayerischer Staatsopernchor eindrücklich.
Die Bühne von Silke Bauer ist unauffällig, klug, effektvoll und schnell in der Verwandlung. Sie sorgt mit dieser Flexibilität und Schnelligkeit der Verwandlung für die Verstärkung des Effekts Masse gegen Einzelne. Ein Aufbau in der Bühnenmitte, der sich hebt und senkt. Wände und Decke, die flugs von Gemeindehalle zu Kirche zu offener Flur nach oben wie nach hinten gestreckt oder gestaucht werden.
In der musikalischen Konzeption wie auch der Bühneninszenierung ist „Masse gegen Einzelne“ das Leitmotiv, dass extrem herausgearbeitet wird. Die Inszenierung beginnt vor dem ersten Ton mit der Zusammensetzung der Masse. Immer mehr Dorfbewohner treffen sich in der Gemeindehalle und verschmelzen für den Rest der Aufführung zur einheitlichen Masse. Am Ende in die Beobachtung des sinkenden Schiffes wird der Zuschauerraum erneut hell. Die Inszenierung macht uns zum Mitbestandteil, zum beteiligten Zuschauer. Kurz zuvor wurde ich als Teil des Publikums noch angeklagt von der Masse auf der Bühne, etwa Peter Grimes zu sein oder ihn zu schützen. Hier fehlt die für mich nachvollziehbare Konsequenz, was ich denn jetzt als Publikum sein soll. Dadurch verpufft der Effekt in mir.
Mit dem letzten Ton erlischt sämtliches Licht. Die Schwärze legt sich auf alles. Ich fühle mich dumpf und beschädigt. Ganz egal ob als Teil der Masse oder von der Masse Angegriffener. Ein wirkungsvolles Ende. Wenn Masse Schuld bestimmt, geht die Menschlichkeit mit unter. Mit diesem Gefühl verlasse ich den Saal.
Frank Heublein, 11. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Peter Grimes von Benjamin Britten
Besetzung
Musikalische Leitung Edward Gardner
Inszenierung Stefan Herheim
Bühne Silke Bauer
Kostüme Esther Bialas
Licht Michael Bauer
Video Torge Møller
Produktionsdramaturgie Malte Krasting, Alexander Meier-Dörzenbach
Chor Stellario Fagone
Peter Grimes Stuart Skelton
Ellen Orford Rachel Willis-Sørensen
Balstrode Iain Paterson
Auntie Claudia Mahnke
- Nichte Lindsay Ohse
- Nichte Emily Pogorelc
Bob Boles Thomas Ebenstein
Swallow Brindley Sherratt
Mrs. Sedley Jennifer Johnston
Rev. Horace Adams Robert Murray
Ned Keene Konstantin Krimmel
Hobson Daniel Noyola
Junge Jakob Biber
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor
Statisterie der Bayerischen Staatsoper
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Benjamin Britten, Peter Grimes, Theater an der Wien25. Oktober 2021