„Peter Grimes?“ – zum Tränen-Trocknen schön

Benjamin Britten, Peter Grimes  Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2024

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Benjamin Britten
Peter Grimes

Kent Nagano, Dirigent

Gregory Kunde, Tenor
Ellen Orford, Sopran
Iain Paterson, Bassbariton

Chor der Staatsoper Hamburg
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Inszenierung nach Sabine Hartmannshenn

Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2024

von Harald Nicolas Stazol

„Wissen Sie, wie alt der ist? 74!!! Und er singt alle Jungen an die Wand“ ruft mir der Junge oben am Eingang mit der Zigarette entgegen, nun ist alles vorbei, eine Servicekraft, „Wir haben Sie gerade bedient!“ – nun, wie die Direktion mir soeben mitteilt, ist Gregory Kunde, ach was: GREGORY KUNDE, 69 Lenze jung. Und das mit „Peter Grimes“, an diesem 11. Februar 2024, einem erinnerungswerten Abend für mich auf lange Zeit, und die Folgenden seien jedem ans Herz gelegt. Und an die Augen. Und ans Ohr.

„Das ist nun das dritte Mal, dass ich ihn höre, den Grimes“, sagt die Dame mit dem Gehwagen, die wir nun zum Taxi geleiten. „Ich habe damals Noah Ilshikoff gehört, dann nochmal die Produktion um die 2010er gesehen, und nun eben heute – und nun, die beiden letzten Akte sind die Besseren!“

„Alles drinnen?“ frage ich, bevor ich die schwere Daimler-Tür zu schwenke und einrasten lasse, Katschonk. Und denke „69? Es gibt Hoffnung!“ Und auch: „69? Das gibt Hoffnung!“

Nicht viel Hoffnung hat der Fischer, Peter Grimes, vor seinem Fischerdorfe, noch immer legt man ihm den Tod seines Schiffsjungen vor. Der verdurstete, aber das möchte ihm niemand so recht glauben. Er soll nie wieder einen anstellen dürfen, doch es gibt Menschen, die an ihn glauben. Also noch eine Chance für den Verurteilten? Nein. Wie auch:

Doch auch der nächste Boy, ein Waisenkind, stürzt von der Klippe, die in dem erschütternd nüchternen Bühnenbild als schwebende, weiße Platte, diagonal und nach vorne abgesenkt überzeugend als Gefahrenzone gezeigt wird, man hat direkt Mitleid mit dem Jungen! Nun aber umzingelt Grimes der wütende Mob, in Form eines Chores, der vorher noch innige Messlieder singen kann, aber nun eben ebenso hasserfüllt, in unbarmherzigen Worten – man hört, dass sie den Fischer am liebsten lynchen würden, eine großartige Leistung, auch schon in der ersten Szene, als alle in dunkelblau, ich zähle etwa drei Dutzend Sänger und Sängerinnen auf einer hohen Treppe links im Bild, schon das Misstrauen der dörflichen Bevölkerung bedrohlich umsetzen. Nun aber, vor all dem Hass des Pöbels?

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Peter Grimes fährt auf hohe See – absolut die Szene beherrschend im cremefarbenen Trawler, die ganze Oper lang, Gregory Kunde, und lässt, ich denke ihn mir wahnsinnig vor Verzweiflung, sein Boot kentern. Das Leben im Dorf geht ohne ihn, als wäre nichts geschehen, wieder seinen gewohnten Gang, populus vult – dies das Libretto, in aller Kürze.

Die Anforderungen an den Tenor sind gigantisch: „Die Partie des Peter Grimes erfordert einen Sänger, der große Strapazen bewältigen kann, und wird deshalb oft von Wagner-Sängern gesungen“, lese ich – aber ich, nein Gilbert auch, wir alle, hören es auch!

In „The Swimming Pool Library“ von Allan Hollinghurst sieht der Protagonist ehrfurchtsvoll von seinem sichtbehinderten Stehplatz oben rechts in Covent Garden den Mann, für den die Oper geschrieben wurde, den greisen Peter Pears, den Lebensgefährten Benjamin Brittens, ganz London sieht den größten Tenor Englands einst sich in die Mitte des Parketts begeben, ehrfurchtsvoll vorbeigelassen, eine Szene, ebenso beeindruckend, wie die Lieder, die der Freund dem Sänger auf die Stimme schrieb, man denke nur an „The plough boy“, „Let the florid music praise!“ oder etwa „Come you not from Newcastle?“.

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Den „Peter Grimes“ komponiert Britten im amerikanischen Exil, dorthin hat es das Paar 1946 verschlagen, man erinnere sich, man hat den „Vater des Computers“, Alan Turing, mit Östrogenen vollgepumpt, auf richterliche Anordnung, nur, weil er einen Obdachlosen bei sich nächtigen ließ! Das Genie, das die „Enigma“ entschlüsselte, begeht Selbstmord – und so mag der Selbstmord des Grimes für das einzig zeitgemäße probate Mittel zur Entsorgung der Schwulen sein, für jene gibt es literarisch bis hin zu „Brokeback Mountain“ kein Glück, mit einer einzigen Ausnahme: „Maurice“, eben von jenem E. M. Foster, („Eine Reise nach Indien“, na, klingelt’ s?), der den Roman, in dem zwei Männern einmal glücklich zusammenfinden, im Vorwort „dedicated to happier times“, an bessere Zeiten widmet, und posthum testamentarisch erst 1976 veröffentlichen lässt.

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Und so mag es kein Wunder sein, dass das gesamte Sujet auf einen transkribierten BBC-Vortrag des homosexuellen Schriftstellers E. M. Foster zurückgeht. „The greatest novelist in England“, wie die Times einmal schreibt, der sich auf eine Ballade des Dichters George Crabbe bezieht, die wiederum offenbar eine wahre Begebenheit beschreibt.

Dem Grimes ist kein Glück beschieden, „doch das Stück ist ja gar nicht homoerotisch“ sagt Gilbert, und der muss es wissen! Nein, aber die schmerzensvolle Gegensätzlichkeit des Fischers zu dem von vornherein verurteilenden Fischervolk wird in diese ja überarbeiteten Inszenierung wirklich schmerzvoll fühlbar: Wen hat Peter zu Freunden, hat er überhaupt welche? Wie lange ist er sozial isoliert? Was zerreißt dem hinreißenden Tenor die Seele, woher kommt sein Trotz, warum scheitert er? Heute Abend kann man es ahnen, einem 69 Jahre alten Sänger sei Dank. Vielleicht braucht man für die Titelrolle eben lange, auch schmerzvolle Lebenserfahrung?

Ich kann meine Notizen kaum verwenden, sind sie doch in völliger Dunkelheit über die Seiten des Büchleins gekritzelt, aber meine Ergriffenheit ist an der Schriftführung deutlich zu erkennen: „Man hofft beim zweiten Schiffsjungen, trotz der bekannten Handlung, noch auf ein Happy End!“ – „wie bigott Kirchgänger sein können“ – „das Duett der beiden Frauen!!!“ – „der Chor aus dem Off, dämmernd-dämonisch – hintergründisch und bedrohlich!“ – „weite Passagen NUR harmonisch“ – vielleicht mag man sich auch aus „juchzenden Violinen“ und „immer wieder die Harfe, wie ein Gespinst“ von der Musik ein Bild machen, auf Anforderung des Vaters am Telefon, er selbst Tenor, eine Passage vorzusingen, sage ich: „Das kann ich nicht“ – nun, alle an der Staatsoper dieser und sicherlich alle folgenden Aufführungen, auch, wenn sie nur von Kennern und Liebhabern besetzt sein werden dürften, eben schön –  und SCHON!

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Es ist an der Zeit, auf das hier wundervolle Staatsorchester unter Kent Nagano hinzuweisen, das die „Sea Interludes“, die Zwischenspiele der einzelnen Akte, so feinfühlig, achtsam und rührend gestaltet, dass es mir tatsächlich die Tränen in die Augen treibt, und ich mich an Gilberts Schulter lehne – hat doch die gleichsam „ausgekoppelte“ Suite mein Leben, seitdem ich 16 war, immer rettend begleitet. Sie waren die 2. CD, die ich hatte, zu einer Zeit, als noch NIEMAND einen CD-Player hatte, ein schwarzer Philips, dank eines Schulfreundes „vom Laster gefallen“, und so begann Britten mein Leben zu verändern: Denn von solcher Kraft ist der wohl bedeutendste englische Komponist des 20. Jahrhunderts, an dem sich die Geister so scheiden.

Da ist die Ballettsuite „Death in Venice“, die ich an der Bayerischen Staatsoper mit Oliver Wehe als Tadzio sah, da ist „The Young People’s Guide to The Orchestra“, eine Variation des Hauptthemas von Händels „The Moor’s Revenge“, das mir als Britten-Adepten immer als Einführung zu den Unwissenden gereicht, allein, bei meinem besten Freund Jan, umsonst, ach vergeblich! „Den kann ich nicht ertragen!“ – und dass ausgerechnet dessen „War Requiem“, die Vertonung des Bombardements auf Coventry, für Teodor Currentzis gerade unter Kuratel gestellt wurde – widersinnig, ja unsinnig für mich! Was kann denn Benjamin Britten für die gegenwärtigen Kriege, hätte das monumentale Werk denn gerade jetzt nicht äußerst passende Berechtigung – also schon wieder gecancelt?

Aber dieser „Peter Grimes“ hätte auch meine Freunde überzeugt, so, wie Gilbert, der eben einen ganz anderen, neuen, gewissermaßen unbefleckten Zugang findet – und, während ich dies schreibe, ertönt in meiner Dichterklause in den Zwischenspielen die raue, britische See, samt Sturmvögeln und hohen Wellen – und man begreift, wie hart das Leben der Fischer sein kann, und im 19. Jahrhundert sicherlich gewesen sein wird. Zum Sturme, an dem es in den späten Achtzigern in Brighton den „Royal Pavillon“ abdeckte, ging ich trotz Warnungen meiner Gasteltern an die tobende Gischt, unvergessliches Erlebnis, die reine Naturgewalt, die Royal Coastguard rettete Boote, das sah ich von der Mole aus – und die hört man in den „Zwischenspielen“ eben.

Peter Grimes, Staatsoper Hamburg © Hans Jörg Michel

Auch einen Sonnenaufgang, und einmal eine spiegelglatte See in einer Flaute, die wohl den Schiffsjungen des Grimes verdursten lässt – aber warum hat denn der schroffe Seemann nicht sein Trinkwasser geteilt? Eine Frage, die mich schon lange beschäftigt. Aber beim Verhältnis der Viktorianer zur Kinderarbeit (man denke an die Dickens’schen Beschreibungen der Arbeitshäuser, oder „Oliver Twist“, oder die Diamantschleifer und Ziegelbäcker in Indien), wundert einen eben gar nichts mehr. Auch das für mich seit langer Zeit!

Zeit auch, den Meister selbst zu Wort kommen zu lassen: „Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in engem Kontakt mit dem Meer. Das Haus meiner Eltern in Lowestoft blickte direkt auf die See, und zu den Erlebnissen meiner Kindheit gehörten die wilden Stürme, die oftmals Schiffe an unsere Küste warfen und ganze Strecken der benachbarten Klippen wegrissen. Als ich «Peter Grimes» schrieb, ging es mir darum, meinem Wissen um den ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen – trotz aller Problematik, ein derart universelles Thema dramatisch darzustellen.“

Und so bleibt mir nur noch, der Hamburger Staatsoper zu dieser Inszenierung, solange sie auch schon währt, zu gratulieren – das Publikum die ganze Zeit so gepackt, dass es den Emotionen nur ganz am Ende freien Lauf lässt, wie passend:

„Peter Grimes?“ – Zum Tränen-Trocknen schön.

Harald Nicolas Stazol, 13. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Benjamin Britten, Peter Grimes Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2024

DVD-Rezension: Benjamin Britten, A Midsummer Night’s Dream klassik-begeistert.de, 31. August 2023

Benjamin Britten PETER GRIMES  MANAUS/Teatro Amazonas, 19. Mai 2023 

Ein Gedanke zu „Benjamin Britten, Peter Grimes
Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2024“

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