Boston Philharmonic Youth Orchestra im Wiener Musikverein: Frischer Wind aus Übersee und Störenfriede im Goldenen Saal

Boston Philharmonic Youth Orchestra, Benjamin Zander,  Musikverein Wien

Foto: Paul Marotta (c)
Musikverein Wien
, Großer Saal, 24. Juni 2018
Boston Philharmonic Youth Orchestra
Benjamin Zander, Dirigent
George Butterworth: The Banks of Green Willow
Maurice Ravel: La Valse. Poème chorégraphique pour Orchestre
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9 D-Dur

von Thomas Genser

Auf seiner Europa-Tournee besucht das Boston Philharmonic Youth Orchestra auch den Wiener Musikverein. Neben Kompositionen von Butterworth und Ravel erklingt Mahlers 9. Sinfonie. Im Rahmen eines Benefizkonzerts zugunsten des Europahauses führt Dirigent Benjamin Zander souverän durch den Koloss von Mahler. Die Leistung der Jugendlichen braucht sich vor „großen” Orchestern nicht zu verstecken, auch wenn das Publikum sie auf eine harte Probe stellt.

Zur Einstimmung spielt man das kurze Orchesterstück The Banks of Green Willow (1913)des britischen Komponisten George Butterworth. Es dominieren süße Romantik und Volksliedidyll – kein Wunder: Verarbeitete Butterworth hier doch britische Volksweisen, darunter die Ballade The Banks of Green Willow, welche musikalische Illustration erfährt. Nach einer Introduktion der Klarinette setzt sich die Musik in Bewegung, es folgen Pizzicato-Akkorde und kantable Linien der Hörner. Zander, selbst gebürtiger Brite, hält sich zurück und leitet das Orchester eher unauffällig.

Dass die Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren mit voller Leidenschaft bei der Sache sind, kann man ihrem Spiel anhören. Auf edle Holzbläser folgen dramatische Steigerungselemente: Die Geschichte der Bauerstochter, die mit einem Seemann durchbrennt, um auf hoher See ein Kind zu gebären, dann aber ins Wasser geworfen wird, erreicht ihren Höhepunkt. Im Überfluss besetzte Streicher liefern wilde Läufe, während Harfen-Glissandi den Gang der Wellen nachzeichnen. Einen himmlischen Ausklang liefert abschließend die Solovioline – diese Musik macht Lust auf mehr! Leider zählt George Butterworth zu den Opfern des Ersten Weltkrieges, in dem er 1916 an der Somme fiel.

Im selben Krieg beteiligt war auch Maurice Ravel – jedoch als Versorgungs- und Krankenwagenfahrer hinter der Front. Die Ballettmusik La Valse entstand im Zeitraum von 1906 bis 1920. Den im Paris der Nachkriegszeit als unangemessen empfundenen deutschen Titel Wien verwarf Ravel zugunsten des heute bekannten. Tiefe Bläser und Kontrabässe eröffnen das musikalische Geschehen, das sich langsam wie ein riesiges Uhrwerk in Bewegung setzt, unterdessen flimmern Fragmente von Walzermotiven durch die Textur.

Nach und nach lichtet Zander die Schleier, und zum Vorschein kommt eine Folge von Walzern mit sehr diversen Charakteren. Klanglich ist das Boston Philharmonic Youth Orchestra druckvoll und massiv, stellenweise fast überladen, in manchen Passagen fehlt Präzision. Geschuldet ist dies vorrangig der gewaltigen Besetzung, besonders jener der Streicher. Dennoch: Die Ravel-typische farbige Tonalität vermitteln die Jugendlichen vortrefflich. Außerdem ermöglicht der gewaltige Klangkörper großen dynamischen Spielraum.

In den Walzern ist irgendwo etwas Wienerisches, Strauss-artiges herauszuhören, moderne Harmonik und Instrumentation geben dem Ganzen aber eine humoristisch-groteske Schlagseite. Ravels Witz und seine Fähigkeit, Trugbilder zu malen, erfreuen jedes Mal aufs Neue! Benjamin Zander am Dirigierpult transferiert die Energie mit schwingenden Gesten weiter an seine Sprösslinge, in Ekstase tönen Schlagwerk und Streicher, während die Piccoloflöte über die Bühne zischt. Toller Applaus für eine sehr reife Interpretation!

Nach der Pause geht es ans Eingemachte: Mahlers letztes Werk, die 9. Sinfonie, deren Uraufführung 1912 der Komponist nicht mehr miterlebte. Zuvor gibt es vom Dirigenten einführende Wort zur Sinfonie, zum historischen Kontext und zum Orchester. Mit sympathischem britischen Akzent erzählt Zander und kann die Anwesenden mit seinen Anekdoten zum Schmunzeln bringen, fordert aber zugleich höchste Konzentration vom Publikum. Diese fehlt leider seit Beginn des Konzertabends.

Wie aus dem nichts kommt das Urmotiv, das der Komponist selbst mit Leb wohl textierte. Ominös grollen die Bässe dazu, während sich ein immer komplexer werdendes Netz von Tönen aufbaut, in dem die Blechbläser führende Rollen einnehmen. Von Expostion, Durchführung oder Reprise kann hier nicht mehr die Rede sein. Mahler geht weiter und sprengt die Formen komplett auf: Wie seine Tonsprache selbst ist auch die innere Struktur der Sinfonie hochmodern und kaum fassbar. In der atemberaubenden Darbietung des ersten Satzes alleine existieren fünf Höhepunkte – einer bombastischer als der vorherige.

Wie selbstverständlich applaudiert das eher junge und konzertunerfahrene Publikum nach dem ersten Satz! Mit hoch erhobenen Händen will Zander dem Beifall Einhalt gebieten, erreicht aber nicht viel. In starkem Kontrast zum ersten Satz ist das folgende Scherzo eine Sammlung von österreichischen Ländlern und Walzern, die – wie schon bei Ravel – derb und grotesk verzerrt werden. Mit hoher Agilität beeindrucken dabei Kontrabässe, Flöten und eine massige Tuba. Tempo- und Charakterwechsel vervollständigen den Eindruck.

Der dritte Satz ist aggressiv und noch grotesker – nichts für sanfte Gemüter! Zu diesem Zeitpunkt verlassen erste Gäste bereits den Saal, im vierten Satz ist die Geduld vieler Konzertbesucher offensichtlich gänzlich erschöpft. Man sieht junge Menschen mit Blick auf das Handy. Im filigranen pianissimo des Finales fällt lautstark ein Smartphone zu Boden und zerstört die Stimmung endgültig! Das nächste Mal bitte daheim bleiben!

Thomas Genser, 24. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de

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