„Carmen“ in HH: Deiner Stimme Gewalt!

Georges Bizet, Carmen  Staatsoper Hamburg, 20. Juni 2024

J’Nai Bridges © Staatsoper Hamburg

Carmen
Georges Bizet

Inszenierung und Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: José Luna
Licht: Carsten Sander
Dramaturgie und Dialogfassung: Sabrina Zwach
Chor: Christian Günther
Kinder- und Jugendchor: Luiz de Godoy

Premiere am 17.09.2022

Staatsoper Hamburg, 14. Juni 2024

von Harald Nicolas Stazol

„Die letzte Carmen hier war Jessye Norman“ – „The last Carmen here…“, flüstert mir nach der Pause der nette Koreaner Platz 19, Reihe 16, und ganz am Schluss, da sind wir vom Klatschen schon sehr erschöpft, und die J’Nai Bridges ist in ihrem Goldkleid schon drei-, nein viermal, und völlig zu Recht  nach vorne gestrebt, umtost, beglückwünscht, bewundert, mit Blumen beworfen (nicht wirklich, aber mit so einer Meisterleistung hat ja auch keiner gerechnet?!) – kein Zweifel, gerade eben, ab 19.35 Uhr, wird die Hamburger Staatsoper eben mal Bizet-mäßig zum Nabel der Welt.

Ich habe nachgeguckt in den Zeitzonen der Welt, gerade findet keine andere Carmen auf dem Planeten statt.

„Dafür lohnt es sich anzureisen!“, schreibe ich am Morgen danach an ganz Europa. Naja, zumindest erstmal nach Bayern, an meine alte Freundin Lydia. Eigentlich schreibe ich alle an, „das werdet ihr nicht nochmal erleben“, ich bitte Paare mit vier Kindern, sich eine Nanny zu nehmen, beschwöre Stylistinnen, sich einen Termin zu suchen – und lade sogar ein Mitglied der Bürgerschaft ein. Alle „JAAA!!!“ Meinem Urteil vertraut man inzwischen offenbar blind.

Archiv 2022, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Kostas Smoriginas © Brinkhoff/Mögenburg

Was? Was sage ich da! „Der erste Akt war sloooow…“ werde ich von einem Abiturienten aufgeklärt, „aber dann ging es smoooooth!!!“ Na, Damen-und-Herr’n, wenn dem noch etwas hinzuzufügen ist…?

Keine Sorge: Ist es.

Doch wo den Anfang finden? Es ist Zeit für ein retardierendes Moment, und so fangen wir mit dem kunterbunten Bühnenbild an. Ach welche Freude, welche Farben, tief lila, knallgelb, karmesinrot, der Chor, dessen Brillanz ich nun VON NIEMANDEM je wieder infrage gestellt sehen möchte. Da ist die Comique in der Opéra, da strahlt Sicherheit und Freude am Werk, ein Vergnügen, das hier schon ihren Anfang nimmt, die das bestürzend-gute Orchester unter Ariane Matiakh aufnimmt, und uns – wie bekannt und geläufig einem die Melodien! – in eine erheitert-festliche Stimmung versetzt, alle Kiddies um einen herum, die älteren Kennerinnen, die hysterischen Musikstudenten und die stillen Connaisseurs. Einmal sage ich in die Stille hinein „brava“, und ein Sturm bricht los!

Archiv 2022, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Tomislav Mužek, Maria Kataeva ©

Schon auf das Entzückendste tritt der Kinderchor auf, Kleine, die sichtbar und hörbar auch soviel Freude haben und verströmen im immer noch beglückenden Kostümbild des José Luna und dem Setting von Herbert Fritsch, da muss ich einfach klatschen, und äußerst bald folgt mir der gerade erst minutenlang so allerliebst beklungene Saal.

Einmal sage ich nur in die Stille „amusante“, bald rufe ich es, und nun kann man wirklich sagen, da hat sich ein Zauber gelegt über den Bau aus den 1950er-Jahren, von innen, nach Außen – ich schrieb schon vom „ozeanischen Gefühl“ in Freuds „Traumdeutung“ – man wird geradezu von einem Jahrzehnt definierenden Timbres und Koloraturen überströmt, ich weiß nicht, welche Wonnen mich weiterhin noch erwarten können.

Aber derer gibt es noch viele, ja, einige, heute Abend, bis 22.15 Uhr, in der Staatsoper zu Hamburg.

Dass der Tenor, Jean-François Borras, „ein wenig an den jungen Pavarotti erinnert“, sagt mein Lieblingsoperfan Rocco gerade, da hat der Mann akustisch schon ein paar Schrankwände in den Saal gezimmert, und ich meine keinen Gelsenkirchener Barock!

Archiv 2022, Tomislav Mužek, Maria Kataeva © Brinkhoff/Mögenburg

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, aber dass „Schönheit und Schönheit überhöht sich selbst“ der Präraffaeliten, das Verdikt von Wilde auch – ich kann heute Abend nichts anderes denken! Solisten, Choristen, Orchester, Optik, Haptik, alles mitreißend-ekstatisch, und Begeisterung allenthalben, immer wieder, vom Parkett bis zu den Logen. Von wegen Hamburger Zurückhaltung…

J’Nai Bridges: Sie, die sich zu Höchstem aufschwingt, leicht und dabei immer voller Stärke, ich denke an Karamell, zuckrig, schmelzend, ich denke an „wie kann man so perfekt sein“, und man nimmt ihr die Carmen, rank und schlank, schlankerhand einfach ab, bis zu ihrem Tode, den man nun wirklich außerordentlich bedauert: Die Amerikanerin fegt vom ersten bis zum letzten Ton alles hinweg, man macht sich keine Vorstellung davon!

Erst beim Fototermin nachher auf der Treppe des Foyers, sie nun plötzlich in knallrot – Lob den Ankleiderinnen! –, ich verpasse ihn, ich kann mir diese Vitesse kaum vorstellen – sehe ich, dass die Grande Dame keine 20 mehr ist, tant pis!

„Auf in den Kampf“ ist Ohren- und Augenschmaus zugleich: Der auf den Schultern hereingetragene Torero Escamillo, feurig-schön Kostas Smoriginas, ganz in Dunkelblau, ein wenig gemahnt das Outfit an einen größenwahnsinnigen Samurai, kurzum: Man mag die grellbunt-glitzernden Kostüme mögen oder nicht, aber gerade passen sie wunderbar, und auch die riesige Madonna, die über allem waltet, und einmal nach oben gezogen wird, und ganz verschwindet – da wird schon Einiges geboten:

Freitag wäre nochmal die Chance, meine Damen und Herren, und es gibt noch weitere – ein Blick ins Programm lohnt sich wirklich – ein fulminantes Spektakel für jung und, äh, älter.

Harald Nicolas Stazol, 20. Juni 2024,  für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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