Foto: Erich Wolfgang Korngold, 1916. AKG-Images
Die tote Stadt – das Meisterwerk und die einzige nachhaltig erfolgreiche Oper des erst 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold ist in England kaum bekannt. Korngolds seinerzeit in ganz Europa gefeiertes und dann, aufgrund der antisemitischen NS-Kulturpolitik im Deutschen Reich verbotenes und damit nahezu in Vergessenheit geratenes (erst 1955 in München wieder aufgeführtes) Jugendwerk wurde in England erst drei Mal aufgeführt, zuletzt im letzten Sommer 2022 im Rahmen des ländlichen Longborough-Festivals (siehe unsere Kritik in „Klassik begeistert“) aufgeführt und hat jetzt ebenso erfolgreich den Sprung auf die größte Bühne der Themsemetropole London, das Coliseum, geschafft:
Die English National Opera ENO hat sich jetzt erstmals an Korngolds in vieler Beziehung anspruchsvolle, ja schwierige Oper gewagt. Das Werk mit seinen spukhaften Fantasien und Träumen lässt an Freuds in jener Zeit aufgekommene Psychoanalyse, an dessen Theorien über Träume und Unterbewusstsein denken, aber auch an den berühmtesten englischen Erfinder von Spukgeschichten, Edgar Allan Poe und vor allem an den Filmregisseur Alfred Hitchcock: Sein Film „Vertigo“ soll von dem Roman des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach inspiriert sein, dessen Werk „Bruges-la-morte“ (1892) auch Korngold zu seiner „Toten Stadt“ inspirierte. Nicht zu vergessen, dass das Libretto gemeinsam mit Erich Wolfgang Korngolds ambitiösem Vater Julius, dem gefürchteten Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“, der unter dem Pseudonym Paul Schott schrieb, verfasst wurde.
Die legendäre Sopranistin Maria Jeritza, welche die Marie mit großem Erfolg in Wien gesungen hatte, nahm diese Rolle für ihren ersten Auftritt an der Met 1921 mit nach New York. Diese erste Produktion der Oper durch die ENO stellt sich erfolgreich den inszenatorischen und vor allem musikalischen Herausforderungen des Werkes: Ein riesiges Orchester von fast Wagner’schen oder Richard Strauss’schen Dimensionen und vor allem die extremen sängerischen Leistungen der Sopranistin (Marietta) und des Tenors (Paul), der ununterbrochen auf der Bühne präsent ist und eine überaus schwierige Partie zu meistern hat.
Erich Wolfgang Korngold, The Dead City – Die tote Stadt
ENO English National Opera, 28. März 2023
von Dr. Charles Ritterband
Die irisch-britische Regisseurin, Annilese Miskimmon, die künstlerische Direktorin der ENO, verstand es meisterhaft, die im Roman Rodenbachs und in Korngolds Oper evozierte morbide und surreale Atmosphäre auf die Bühne zu bringen. Anders als in anderen Inszenierungen ließ sie Paul nicht als „Stalker“ Marietta, die Doppelgängerin seiner verstorbenen Marie, durch die Straßen der „sterbenden Stadt“ verfolgen – im Gegenteil dringt Marietta in Pauls Intimsphäre ein, in den geheiligten Raum des Museums mit Reliquien (vor allem den abgeschnittenen blonden Zopf in einer Glasvitrine) und zahlreichen Erinnerungsstücken (ihre Schuhe, ihr weißes Kleid), eine Art Kapelle der Madonnen-Anbetung. Die ENO hat keinen Aufwand gescheut und die führenden Spezialisten des Londoner West End im Produzieren von Theater-Nebel aufgeboten, um die düster-neblige Atmosphäre der „Toten Stadt“ Brügges in Pauls prachtvollen Museums-Kapellen-Raum zu holen, dessen Läden auf seine Anordnung hin stets geschlossen bleiben müssen, um sich hier von der Realität der Aussenwelt hermetisch abzukapseln. „Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt
ENO English National Opera, 28. März 2023“ weiterlesen