Foto: © Monika und Karl Forster
von Alexander Walther (onlinemerker.com)
Psychologische Prozesse werden in der subtilen Inszenierung von Bernd Mottl sehr präzise dargestellt. Nicht umsonst waren es die Nürnberger Wirtshäuser, die Richard Wagner zu seiner Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ deutlich inspiriert haben. Gerade darauf nimmt der Regisseur Bezug (Bühne und Kostüme: Friedrich Eggert).
Im ersten Akt sieht man die Gaststätte als Ort verschiedener Zeiten und Stilrichtungen. Der zweite Akt lässt dann die Häuserfassaden für das Publikum in sehr viel näherer Weise deutlich werden. Künstlerdrama und Liebesgeschichte erreichen auch hier eine ungeahnte Intensität. Die Affäre zwischen Walther von Stolzing und Eva prägt sich dem Zuschauer durchaus ein. Hans Sachs hingegen erhält den Nimbus des alternden Mannes, dessen tragisches Schicksal das Publikum ebenfalls berührt. Die berühmte Prügelszene entwickelt eine beachtliche szenische und rhythmische Kraft, der gesellschaftliche Balanceakt lässt die Grenze des Komischem zum Tragischen verschmelzen. Natürlich sind dabei nicht alle Passagen gelungen. Totenköpfe werden hin- und hergeschwenkt, in den Fenstern hängen Betrunkene herum, Licht flackert in nervöser Weise hin und her. Sehr gut wird hier Sixtus Beckmesser charakterisiert, der sich bei seinem Meistersingerlied vor allem Volk unsterblich blamiert.
Die Stube des Hans Sachs im dritten Akt erhält bei Bernd Mottl ein betont modernes Outfit. Diese Szene ist dem Regisseur allerdings am wenigsten gelungen. Aber die Seelenqualen des alternden Hans Sachs kommen doch überzeugend über die Rampe, denn das junge Liebespaar vergnügt sich respektlos im Bett von Sachs, während dieser zuschauen muss und natürlich völlig die Nerven verliert. Opulent und wirkungsvoll, wenn auch manchmal allzu überladen wirkt dann das Schlussbild. Auf der glanzvollen Empore sieht man die stolzen Trompeter, die das gewaltige Panorama mit dem Jubel um Hans Sachs und das Liebespaar Walther von Stolzing und Eva begleiten.
Bernd Mottl verleugnet dabei jedoch keineswegs, dass Wagners „Meistersinger“ ein naturalistisches Stück sind. Die Zeit wird dabei angehalten, das Mythisch-Mystische verschwindet. Die Handwerker sind ein Club alter Herren, die zwar an Regeln und Werten hängen, die Welt deswegen jedoch wegfegen wollen. Sie flüchten in eine Scheinwelt, die nicht mehr existiert. Gerade dieser Aspekt hätte bei der Inszenierung noch deutlicher werden können. Aber Hans Sachs möchte sich hier nicht gegen den Fortschritt stemmen. Sachs möchte die alten Werte in die neue Zeit hinüberretten, womit er natürlich erhebliche Probleme hat. Michael Volle als Hans Sachs stellt diese verzwickte Situation in wahrhaft begeisternder Weise dar.
Unter der elektrisierenden Leitung von Patrick Lange sticht die musikalische Leistung dieses Abends deutlich heraus. Vor allem der diatonische Klangcharakter und die erfrischende Rhythmik fesseln das Publikum ungemein. Auch die schwärmerische Gefühlswelt von Eva und Walther kommt keineswegs zu kurz, dafür sorgen vor allem die ausdrucksstarken Sänger Betsy Horne als Eva und Thomas Blondelle als Walther von Stolzing. Dynamisch feinnervige Nonenakkorde werden dabei vom Dirigenten minuziös herausgearbeitet. Kontrapunktische Strukturen nach dem Vorbild Bachs treten bei dieser durchaus einfühlsamen Wiedergabe suggestiv hervor. Und die Sommernachtsstimmung des zweiten Aktes erreicht zumindest musikalisch eine betörende Wirkung, auch wenn das szenische Pendant nicht immer mithalten kann. Polyphone Durchdringung wird bei dieser Interpretation zumindest großgeschrieben. Dies gilt vor allem für die hervorragenden Chorpassagen mit Chor und Extrachor des Staatstheaters Wiesbaden (Einstudierung: Albert Horne). Da zeigt die „Prügelfuge“ wirklich Biss.
Der großartige Michael Volle wird hier als Hans Sachs tatsächlich zu einem Integrationshelfer der gespaltenen Nürnberger Gesellschaft. Mit pompöser Statur und starkem gesanglichen Klangfarbenreichtum vermag er das Publikum nicht nur beim fieberhaften Wahnmonolog rasch für sich zu gewinnen. Eine ganz besondere Leistung vollbringt ebenso Johannes Martin Kränzle als Sixtus Beckmesser, der seine grenzenlose Verzweiflung bei der Fuge betroffenmachend herausschleudert. Wagners flammendes C-Dur setzt sich bei dieser Aufführung vor allem gegen Ende sehr deutlich durch. Energiegeladen und stimmgewaltig agieren auch die übrigen Sängerinnen und Sänger. Neben der Luxusbesetzung Günther Groissböck als Veit Pogner und Margarete Joswig als Magdalena gefallen vor allem Daniel Behle als höhensicherer David, Benjamin Russell als Fritz Kothner, Ralf Rachbauer als Kunz Vogelgesang, Florian Kontschak als Konrad Nachtigall, Rouwen Huther als Balthasar Zorn, Reiner Goldberg als Ulrich Eisslinger, Andreas Karasiak als Augustin Moser, Daniel Carison als Hermann Ortel, Philipp Mayer als Hans Schwarz und Wolfgang Vater als Hans Foltz.
In weiteren Rollen imponieren noch Tuncay Kurtoglu als Nachtwächter und die famosen Lehrbuben Istvan Balota, Maria Dehler, Gregoire Delamare, Marvin Gauger-Schmidt, Hyemi Jung, Hounwoo Kim, Scott Ingham, Luca Leonardi, Florian Löffler, Maike Menningen, Karolina Michel und Paul Sutton.
Die exzellente Beckmesser-Harfe mit Kristina Kuhn soll nicht unerwähnt bleiben. Beim Sehnsuchtsmotiv Walthers scheint Patrick Lange als Dirigent tatsächlich ganz in seinem Element zu sein. Auch die verinnerlichte Stimmung erfährt dabei eine weitere Vertiefung. Humorvolle Klangmalerei tritt hier in geradezu geheimnisvoller Weise zutage. Regenbogen-, Nachtigall- und Froschmotive quellen in unwahrscheinlicher Weise hervor. Vor allem das Motiv der Sangesfreude entwickelt sich überaus kraftvoll. Beim Tanzchor triumphieren einmal mehr die rhythmischen Momente, die sich in den Noten D-Fis-C-E aufzulösen scheinen. Das liegengebliebene G wirkt umso rätselhafter. Jedes Motiv erhält bei Lange einen erstaunlichen Charakterisierungsreichtum. Das Poch-Motiv beim Beckmesserständchen erreicht eine ebenso prägnante rhythmische Kraft und Klarheit. Und das Liebessehnen des jungen Liebespaares ergreift hier zuletzt alle Orchesterstimmen in wahren Fieberkurven.
So gab es zuletzt starke Ovationen des Publikums für die gelungene Vorstellung einer Oper, die von Johannes Brahms gelobt und von „Kritikerpapst“ Eduard Hanslick einst in der Luft zerrissen wurde.
Alexander Walther, 31. Mai 2019