Am Ende lernt es auch das Kölner Publikum schätzen, wenn Birminghamer Gäste die Philharmonie ins Schwanken bringen

City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Gražinytė-Tyla, Dirigent,  Kölner Philharmonie, 20. März 2023

Foto: Mirga Gražinytė-Tyla © Ben Ealovega

City of Birmingham Symphony Orchestra

Mirga Gražinytė-Tyla, Dirigent
Kirill Gerstein, Klavier

Mieczysław Weinberg – Sinfonietta Nr. 1 op. 41 (1948)

Robert Schumann – Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54 (1841–45)

Sergej Prokofjew – Romeo und Julia – Auszüge aus den sinfonischen Suiten op. 64a und op. 64b (1936) zusammengestellt von Mirga Gražinytė-Tyla

Zugabe:

Sergei Rachmaninow – Liebesleid (nach Fritz Kreisler) arrangiert für Soloklavier

Kölner Philharmonie, 20. März 2023

von Daniel Janz

Auch heute begrüßt die Philharmonie Köln wieder internationale Gäste mit einem Programm, das einerseits bekannte, andererseits nahezu vergessene Musik präsentiert. Eine spannende Mischung, die neben vertrauten Tönen auch Neues zu entdecken verspricht. Die hier auf dem Programm stehenden Orchesterklassiker Schumann und Prokofjew lassen jedenfalls ein tolles Konzerterlebnis erwarten. Den Einstieg aber macht das Werk des – in Deutschland nahezu vergessenen – polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg.

Obwohl Weinbergs Sinfonietta kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstand und sein Klang oft mit Schostakowitsch verglichen wird, entpuppt sich dieses Werk als durchweg charmante und nicht triste Komposition. Der erste Satz bietet neben seinen flirrenden Einstiegsklängen und baladenartigen Streichergesängen vor allem trabende Rhythmen und durch erkennbare Themen und deren Wiederholungen auch einen steten roten Faden. Hier schwingt die Musik durch den Saal – man möchte neudeutsch schon zum Wort grooven greifen. Eine Stimmung, die sich auf den zweiten Satz nicht überträgt, der seinerseits durch die melancholischen Soli des Horns bestimmt wird, bevor er sich dann in breite Klangflächen öffnet, nur um von Horn wieder abgerundet zu werden. Ein angenehm zyklisches Werk.

Satz 3 und 4 können dann durch energische Klänge punkten. Während Satz 3 durch seine Stimmführung teils orientalistisch anmutet, stürmt das Orchester im vierten Satz richtig los. Hier ist die Kraft richtig spürbar, mit der die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla (36) ihren Weinberg klar und unverschnörkelt zur Aufführung bringt. Selbst Stellen, wo nur einzelne Instrumentengruppen spielen, reißen mit, in den vollen Stellen überwältigt die Musik sogar. Da kommt dem Rezensenten der anschließende Applaus im Vergleich zum Gehörten fast verhalten vor. Schade, denn Weinbergs Musik darf gerne als positiver Überraschungsfund bezeichnet werden, der viel häufiger in unsere Konzertsäle gehört. Eine absolut begeisternde Entdeckung.

Symphony Orchester © Upstream Photography

Beim zweiten Stück des Abends erlebt der Rezensent ein Déjà-vu – Robert Schumanns Klavierkonzert konnte er bereits vor wenigen Monaten in der Kölner Philharmonie hören, sodass er den Eindruck noch frisch im Gehör hat. Gleichzeitig behauptete er damals, dass es zu den eher wenig aufgeführten Werken zählen würde. Dies hat sich derweilen als Trugschluss herausgestellt. Tatsächlich wird es in Köln zwar weniger aufgeführt, als andere Klavierkonzerte, gehört aber zu den allgemein im Standardrepertoire vorhandenen und damit regelmäßig gespielten Werken.

Leider muss der Rezensent durch den ihm frischen Vergleich auch feststellen, dass die Oktober-Aufführung mehr Eindruck hinterließ. Obwohl mit dem US-Amerikaner Kirill Gerstein (43), geboren in Woronesch (Russland), heute eine gestandene Größe aufspielt, kommt sein Schumann etwas routiniert und deshalb unspektakulär daher. Das liegt einerseits am Werk: Durch den insgesamt eher ruhigen Grundton kann es sich nur schwer zum Werk davor behaupten. Andererseits perlten die Töne bei Víkingur Ólafsson im Oktober samtener von der Klaviatur, sodass die Sensibilität mehr zur Geltung kam. Spannung will heute jedenfalls nicht so recht aufkommen.

Kirill Gerstein © Marco Borggreve

Aber trotz dieses starken dramaturgischen Einknicks in der Konzeption des Abends gibt es auch Positives zu entdecken. Da lässt sich zum Einen die sehr achtsam auf das gesamte Ensemble abgestimmte Orchesterleitung von Mirga Gražinytė-Tyla nennen – gerade einzelne Akzente arbeitet sie auffällig klar heraus. Dann auch die generell gute Spielqualität von Orchester und Solist und zuletzt ein Finale, in dem alle zum Temperament zurückfinden. Wirklich beeindrucken kann Gersteins anschließende Zugabe. Rachmaninows Arrangement von Fritz Kreislers „Liebesleid“ verzückt regelrecht und gefällt dem Rezensenten besser, als der Schumann davor.

Schade, dass das Publikum auch dieses Kleinod nicht mit dem verdienten Jubel bedenkt. Der „nur“ brave, wenn auch ausdauernde Schlussapplaus kommt dem Rezensenten hier erneut unverhältnismäßig vor. Besonders, nachdem die Vorführung inzwischen durch einige Störungen von den Zuschauerrängen erschwert wurde. Nun könnte man sich hier wieder über die Huster von Köln aufregen. Aber wozu? Man kennt es ja in diesem Saal und anscheinend wird dies vom Publikum auch toleriert.

Aber dass das Kölner Publikum ohnehin merkwürdige Prioritäten setzt, wird dem Rezensenten in der Pause bewusst, als sich eine Dame aus der hinteren Reihe ihm gegenüber echauffiert, wie er es denn wagen könne, sich im Konzert mit Bleistift und Papier Notizen zu machen. Und dann sei der Rezensent ja so jung – er könne sich doch niemals so teure Karten leisten. All dies würde sie so sehr ablenken, dass sie die Musik nicht mehr genießen könne. Husten, Bonbonknistern, Programmheftrascheln, Foto- und Videoschießen mit dem Handy, was in Köln explizit verboten ist; alles egal. Aber wenn ein Kritiker unter 60 Jahren seine Arbeit macht, ist das Erlebnis ruiniert? Glücklicherweise springen dem Rezensenten kurz darauf etwa ein halbes Dutzend Konzertbesucher bei und verteidigen ihn und seine Arbeit. Diesen freundlichen Personen sei hier unbekannterweise herzlich gedankt! Es hätte ja sonst noch der Eindruck entstehen können, die Jugend wäre im Konzertsaal nicht erwünscht.

So bleibt nach der Pause der Fokus auf der Musik selbst. Hier geht das Birminghamer Orchester in die Vollen. Prokofjews Romeo und Julia gehört zu seinen bekanntesten Kompositionen und etablierte sich inzwischen als echter Klassiker. Der Tanz der Ritter ließe sich glatt als schamlos überstrapaziert bezeichnen. Jedenfalls hat der Rezensent diesen oft genug gehört, um je nach Dirigat unterschiedliche Spielweisen zwischen bedächtig trottend bis zu feurig brausend feststellen zu können. Und Mirga Gražinytė-Tyla bewegt sich auf der eher langsam trottenden Seite des Spektrums mit Hang zum Schleppenden. Dennoch gerät es diesem Orchester noch wuchtig genug.

CBSO und Mirga Gražinytė-Tyla © Ben Ealovega

Auch weitere Parts überzeugen. Erfreulicherweise hat Gražinytė-Tyla sich in ihrer Auswahl nicht nur auf die Teile der sinfonischen Suiten beschränkt, die ohnehin andauernd im Konzertsaal erklingen. Sondern sie berücksichtigt auch lyrische Parts, wie Romeo und Julias Balkonszene, den „Tanz der fünf Capulets“ (im Programmheft „Dance of the five Couples“ genannt) oder den „Tanz der Brautjungfern“ (laut Programmheft der „Dance of the Antilles Girls“, was dem russischen Ursprungstitel „Tanz der Mädchen mit Lilien“ aber nur bedingt gerecht wird).

Von den merkwürdigen, im Englischen aber wohl etablierten Titeln abgesehen, können diese Parts musikalisch dank ihres sensiblen Dirigats überzeugen, weitgehend sogar verzücken. Dazu demonstrieren sie auch, dass es in der gesamten Orchestersuite von Prokofjew immer etwas Neues voller Schönheit zu entdecken gibt. Hinzu gesellen sich auch eine wunderbar farbige „Masken“-Szene und der würdevoll schreitende Part über Pater Lorenzo. Das ist klangliches Gold.

Weniger Eindruck schinden stattdessen die dramatisch aufbrausenden Parts. Hier fehlt es doch stellenweise Schärfe im Klang. Bei „Tybalts Tod“ beispielsweise erscheinen dem Rezensenten das Schlagwerk sowie die Bassgruppe um Posaunen und Tuba zu matt – einem kurzen Zwischenapplaus zum Trotze. Und auch zu Julias Tod hätte man aus dem Orchester noch ein Quäntchen mehr Dramatik herauskitzeln können. So ist es in weiten Teilen eine solide bis gute Aufführung mit einigen sehr schönen Zwischenparts. Doch es bleibt noch Luft nach oben. An den spritzigen Klang anderer internationaler Orchester, sowie die feurige Aufführung der Gürzenicher vor 2 Jahren, über die der Rezensent auch berichtete, kam das heute noch nicht ganz ran.

Dennoch zeigt sich das Publikum begeistert und spendet am Ende minutenlangen Applaus mit besonderem Akzent auf die (wirklich herausragenden) Holzbläser inklusive Saxophon, sowie die fantastisch spielende erste Geige, die den allgemein großartig musizierenden Streichern vorangestellt ist. Positiv sollen hier auch die Hörner und Trompeten sowie die in ihrem Klang immer klare Harfe und das Klavier plus Celesta erwähnt werden. Insgesamt rechtfertigt die Vorführung den jetzt endlich größtenteils stehenden Schlussapplaus, der eigentlich schon zu Weinberg, spätestens aber bei Rachmaninow verdient gewesen wäre. Der Rezensent verlässt das Konzert jedenfalls durchweg zufrieden und stellt fest: Auch, wenn dies hier nicht die Londoner, die Berliner oder die Prager Philharmonikern sind, ist dieses Orchester insgesamt den Besuch wert gewesen.

Daniel Janz, 22. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

CD-Besprechung – Mieczyslaw Weinberg: Wir gratulieren! klassik-begeistert.de

City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Gražinytė-Tyla, Rudolf Buchbinder, Musikverein Wien

Daniels Anti-Klassiker 27: Prokofjew – „Tanz der Ritter“ aus „Romeo und Julia“ (1936)

4 Gedanken zu „City of Birmingham Symphony Orchestra, Mirga Gražinytė-Tyla, Dirigent,
Kölner Philharmonie, 20. März 2023“

  1. Lieber Daniel,

    danke für Deinen schönen Bericht, es war ein guter Abend, und ich freue mich schon auf das Abo „Internationale Orchester“ in der kommenden Saison 2023/24, das ja morgen bekanntgegeben wird.

    „Gegroovt“ hat es auch, ich möchte unbedingt mehr Weinberg hören. Gersteins Zugabe war großartig, sehr charmant dargeboten, und alle in meinem Dunstkreis sprachen nach Konzertende vor allem davon.

    Aber was für eine unangenehme Person da hinter Dir, die Du noch, ganz Gentleman, als „Dame“ bezeichnest. Der Dank an Deine Unterstützer ist mehr als berechtigt. Zum Glück gibt es auch das!

    Ich fühlte mich beim Lesen an einen Kölner Abend erinnert, vor sehr vielen Jahren, es spielten die Wiener, und ich hatte einen Stehplatz. Volle Hütte, wie immer tendentiell schnöseliges Publikum. Vor mir, in Reihe 32, ging ein junger Mensch kurz vor Beginn zu seinem Platz (immerhin Kategorie 4, das konnte er sich leisten oder hatte die Karte geerbt, solcherlei soll man nie hinterfragen), Handy in der Hand, und wurde aufs Unangenehmste zurechtgewiesen von einer „Dame“, er möge doch bitte während des Konzerts nicht von seinem Handy Gebrauch machen. Ich, sonst nicht sonderlich schlagfertig, fragte die Frau daraufhin, ob ihr die Unschuldsvermutung ein Begriff sei…

    Herzliche Grüße, schreibe weiter mit Bleistift auf Papier,

    Brian

    1. Lieber Brian,

      danke dir für die liebe Rückmeldung. Es ist wirklich ein Unding, was da in Köln manchmal abgeht. Die Huster kann ich inzwischen verschmerzen, auch dem Handy gegenüber habe ich mir eine gewisse Toleranz angeeignet. Aber solche Manieren machen mir echt zu schaffen. Ein Grund, warum ich nicht mehr in dieser Stadt wohne. Was ist aus der (ehemals) „schönsten“ und „freundlichsten“ Stadt am Rhein geworden? Das ist nicht mehr mein Köln… Aber gut – Neuss und Düsseldorf sind ja auch ganz schön. Und in Düsseldorf findet man sogar ab und an was richtig Spannendes in der Tonhalle.

      Grüße,
      Daniel

  2. Hallo Brian, hallo Daniel,

    ich war am Montag auch in dem Konzert, und die Führung des Orchesters durch die Dirigentin hat mir ausgesprochen gut gefallen. Für mich war das Klavierkonzert ein Highlight, weil die Lautstärken des Soloinstruments Klavier und des Orchesters so gut aufeinander abgestimmt waren, wie ich es bisher noch nicht erlebt hatte. Aber Ihr seid Experten und sehr wesentlich mehr als ich.

    Der Anlass meines Schreibens ist aber, dass ich gerade vom Hélène Grimaud-Solokonzert aus Düsseldorf komme, und von der Respektlosigkeit des Publikums gegenüber der Solistin bzgl. der Störungen durch Husten und Flüstern zutiefst irritiert bin. In den leisesten Passagen, lyrisch und traumhaft gespielt – na, da passt doch jetzt mal wieder ein Husten oder Räuspern… Es war noch schlimmer als das, was ich bisher in Köln in der Hinsicht erleben durfte bzw. musste.

    Bin auf die Kritik zum Düsseldorfer Konzert gespannt, wer immer sie schreiben möge. Es würde mich auch interessieren, was die zweite Zugabe war – sie beruhte auf der bekannten Melodie der „Moorsoldaten“ – wer hat basierend auf dem Thema dieses Stückchen komponiert, in das hinein mutmaßlich deutsches Husten einen ganz besonderen Eindruck hinterlässt – wobei gesagt werden sollte, dass ein Großteil des Publikums durchaus respektvoll und anerkennend bis hin zu hell begeistert war, und sich dem Rahmen entsprechend dizipliniert verhielt. Doch die nicht zu dieser Gruppe von Menschen gehörenden Besucher waren leider unüberhörbar.

    Weder Rucola (Köln) noch Wick (Düsseldorf) erzielen die erwünschte Wirkung einer respektvollen Ruhe bei einem künstlerischem Auftritt.

  3. Lieber Daniel,
    Deine Rezension hat uns richtig aus der Seele gesprochen. Schon beim Reingehen in die Philharmonie haben wir festgestellt, dass sich ein merkwürdiges Publikum versammelt hatte.
    Während des Konzerts haben uns ebenfalls die Handys, die ständig benutzt wurden und die Husterei, die wir schon als „Kotzerei“ bezeichnen, erheblich gestört. Auch die beiden „Damen“, die in der Reihe vor uns saßen, hatten nichts Besseres zu tun als mit dem Handy zu hantieren, das Programm zu lesen und sich darüber zu unterhalten sowie zwischendurch ihre Öko-Bonbons aus der Tüte zu rascheln. Manche Besucher haben keinerlei Respekt gegenüber den Künstlern, sie sollten einfach wegbleiben und nicht die Menschen nerven, die die Musik genießen wollen.
    Mich hat auch der verhaltene Applaus nach dem Weinberg-Stück irritiert. In der Woche vorher waren wir beim Orchestre de Paris mit Mäkelä in der Philharmonie, bereits nach dem 1. Stück gab es Standing Ovations, kräftigen Applaus und Jubelrufe, wie auch nach den anderen beiden Stücken. Das hätte ich mir bei dem o.a. Konzert auch gewünscht, denn es war wirklich ein Hochgenuss.
    Leider weiß ich auch nicht, warum Teile des Kölner Publikums sich so schlecht benehmen. Aber ich freue mich, dass es Menschen wie Dich gibt, die das Konzert wunderbar rezensieren und auch kritische Bemerkungen machen. Weiter so mit Bleistift und Papier und so tollen Kritiken! Es gibt glücklicherwiese noch viele Menschen, die diese zu schätzen wissen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Marion

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