Daniels Anti-Klassiker 17: John Cage – 4’33’’ (1952)

Daniels Anti-Klassiker 17: John Cage – 4’33’’ (1952)

Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

Mit John Cage findet eine schillernde Figur der musikalischen Moderne in diese Reihe. Der selbsternannte Meister musikalischer Stille war bereits zu Lebzeiten einer jener Künstler, an dem sich die Geister schieden. Von einer kleinen Elite um musikalische Avantgardisten als Genie vergöttert, vom Gros des Konzertpublikums aber unverstanden, ist es eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt noch rezipiert wird. Und noch verwunderlicher ist es, dass sein bekanntestes Stück ausgerechnet eines ist, das streng genommen in keinem Konzertsaal etwas zu suchen hat.

Konzept hinter Cages Schaffen war lange Zeit, dass „alle Klänge zu Musik werden können“. Diese Idee dürfte auch Initialzündung für sein heute bekanntestes Stück gewesen sein: Mit 4’33’’ schuf Cage ein Werk, das im Gegensatz zu anderen Orchestermusiken nicht die Musik selbst, sondern den Klang des Konzertwesens in den Vordergrund stellen sollte.

In der Idee, durch das Erkennen und Verwenden aller Klänge neue Ausdrücke schaffen zu wollen, liegt ein großer Drang zur Erweiterung musikalischer Möglichkeiten. Es lässt sich tatsächlich fragen, ob wir heutzutage eine so reiche musikalische Kultur hätten, wenn es nicht zu jeder Zeit Experimente gegeben hätte, die Musik um neue Ausdrucksspektren zu erweitern. Der Bau und die Variation von Instrumenten, das Schaffen von Skalen, die wohltemperierte Stimmung nach Bach, die Entstehung des ganzen Konzertwesens – alles ließe sich auf diesen Drang zurückführen. Die Frage nach der Erweiterung der Mittel zu stellen, ist also nicht wirklich neu.

Cages Antwort auf diese Frage grenzt aber geradezu ans Groteske. Neben vielen mal mehr, mal weniger überzeugenden Klangexperimenten (die ich leider alle nicht in einem Konzertkontext schätzen kann) erreichte sein Streben nach musikalischer Absurdität mit diesem Werk einen noch nie dagewesenen Höhepunkt. Cages Partitur besteht aus einem einzigen Blatt Papier. Inhalt: Leere.

Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist tatsächlich voller Ernst: John Cage arrangierte dieses Stück für „irgendwelche Instrumente oder Kombination aus Instrumenten“. Drei Sätze komplette Stille sollen die Musiker auf der Bühne ausführen mit einer Länge, die ursprünglich einzig dem Taktgeber oblag. Als einziger Tongeber hat sich im Konzertbetrieb dafür eine Stoppuhr durchgesetzt, die wahlweise Solist oder Dirigent betätigen, um die vorgegebene Zeit von 4 Minuten und 33 Sekunden nicht zu überschreiten. Und glaubt man den Anekdoten, so ist selbst diese Angabe nur deshalb festgeschrieben, weil sie auf die Dauer der Uraufführung zurückgeht.

Musikalisch kann man entsprechend nichts zu dem Werk sagen, außer dass es alle Eigenschaften von Musik vermissen lässt. Es ist das aufs platteste und primitivste – ich würde sagen „dämlichste“ – Art ausgeführte Ad-absurdum-Führen einer gesamten Kultur und ein Betrug an allem, was Musik ausmacht. Auf gut Deutsch gesagt: Eine plumpe Verarschung!

Dieses Fehlen von Melodie, von Harmonie, Rhythmus und Instrumentenklang macht nur in einem Konzertkontext Sinn, der in sich selbst bereits eine ritualisierte Kultur darstellt: Der Besuch in extra dafür gestalteten Bauten, in denen jeder Besucher still und wohlgekleidet andächtig auf seinem Platz zu sitzen hat, um den Kunstschaffenden auf der Bühne zu folgen – ein Umfeld, in dem man sogar Gefahr läuft, für jeden unbeabsichtigten Huster von den übrigen Konzertgängern verteufelt zu werden. So gesehen hält John Cages 4’33’’ einer gesamten Kulturbranche den Spiegel vor und deckt deren eigene Absurdität auf.

Aber braucht es dafür wirklich ein Stück „Musik“, das gar keine ist? Um das ungehemmte Husten und das Rascheln von Programmheften im Konzertsaal zu erleben, ist nicht erst die vorgeschriebene erzwungene Stille durch einen so genannten Komponisten notwendig. Denselben Klangeindruck kann man in jeder Komposition vernehmen, die eine Pause zwischen den Sätzen liefert. Streng genommen haben wir es hier also mit einem Stück Darbietungskunst zu tun, das ins Theater und nicht in den Konzertsaal gehört. Und darüber hinaus ist es nicht einmal anspruchsvoll, mal davon abgesehen, dass die in so einem Kontext zu hörenden Klänge weder als Musik, noch als die Gefühlswelt bereicherndes Erlebnis erscheinen.

Den Gipfel der Absurdität erreichte diese Art von „Kunst“ aber im Jahr 2002, als der britische Komponist Mike Batt unter dem Titel „A One Minute of Silence“ eine einminütige Pause als Single veröffentlichte, zu der er verlauten ließ, dass ihm in nur einer Minute das gelang, wofür Cage viereinhalb benötigt hatte. Eine Begründung, der Cages Erben nicht gefolgt sein sollen: Unter Vorwurf des Plagiats sollen sie Batt bis vors Gericht gezerrt und zur Zahlung einer sechsstelligen Summe verpflichtet haben. Erst 2010 flog auf, dass es sich bei der Aktion um einen PR-Gag handelte.

Es ist schon fragwürdig genug, dass Cage mit diesem Stück haargenau dasselbe Erlebnis als „Kunst“ verkauft, wie es Konzertgänger in nahezu jeder Aufführung unfreiwillig erfahren. Er hat damit ein Werk geschaffen, das neben seiner Absurdität auch beliebig auswechselbar und damit überflüssig ist. Ein Werk, bei dem einzig der Austausch über eben jene Überflüssigkeit und Absurdität die Existenzgrundlage bildet. Auf solche „Kunst“, die nur zum Provozieren besteht und um ihrer selbst Willen Aufmerksamkeit erzwingen will, aber nicht in der Lage ist, darüber hinaus ein authentisch charakteristisches Erlebnis, eine kathartische Wirkung oder im besten Fall sogar eine Erkenntnis zu vermitteln, kann man jedoch getrost verzichten.

Daniel Janz, 19. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Daniels Anti-Klassiker 16: Gioachino Rossini – Figaro-Arie aus „Der Barbier von Sevilla“ (1816)

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