Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Die Moldau – einer der zeitlosen Hits tschechischer Orchesterkompositionen, die Bedřich Smetanas Stellung als Nationalkomponist noch einmal unterstrich. Kaum ein anderes Werk dieses Komponisten ist so nachhaltig wirksam und von keinem Spielplan wegzudenken. Dazu kommt die ihm zugeschriebene Mystifizierung – Smetana, zum Zeitpunkt dieser Komposition selbst bereits komplett ertaubt, wird ob dieses Umstandes nicht selten auch mit Beethoven verglichen. Und doch – diese Geschichte des vermeintlichen Meisterstücks hat einen Knick.
Dabei muss man Smetana anerkennen, was für eine Leistung die Komposition dieses Klassikers aller Programmmusik war. Nicht nur in Anbetracht seines gesundheitlichen Zustands ist die Fertigstellung der Moldau ein kleines Wunder. Auch ausdruckstechnisch kann sie sehr stark die einzelnen nach Etappen des gleichnamigen Flussverlaufs benannten Episoden wiedergeben. Da finden sich ihre zwei Ursprungsquellen, eine Jagd- und (gerne mal zu langsam gespielte) Hochzeitsszene, ein nächtlicher Nymphenreigen, Stromschnellen und schließlich fließt die Moldau an der Burg Vyšehrad vorbei in einen musikalisch triumphalen Höhepunkt.
So gesehen lassen sich an dieser Komposition keine eklatanten Schwächen feststellen. Einen Verriss rechtfertigt sie jedenfalls nicht. Allgemein möchte man eher meinen, die knapp zwölfminütige Moldau ginge runter wie Sahne – wenn man das platte Wortspiel mit dem Namen Smetana (auf tschechisch „Sahne“) verzeihen mag.
Auch dürfte das Werk zwar einen hohen Bekanntheitsgrad haben, jedoch ist zu fragen, ob es im Vergleich zu anderen Komponisten wirklich schon als überrepräsentiert gelten müsste. Mir persönlich hängt es in dem Sinne einerseits zwar noch nicht aus den Ohren heraus. Aber andererseits lässt sich eine allgemein sehr rege Aufführungspraxis nicht leugnen. So gesehen dürfen die Meinungen hier gerne auseinandergehen.
Die eigentliche Krux der Moldau ist jedoch, dass sie nicht als ein möglicherweise überstrapaziertes Kleinod der Programmmusik für sich steht, sondern heutzutage in den Kontext einer fast achtzigminütigen Gesamtkomposition eingebettet ist. „Mein Vaterland“ nannte Smetana diese ursprünglich aus sechs einzelnen Kompositionen bestehende und heutzutage meistens als Gesamtheit aufgeführte Musikchronologie.
Diesen Mega-Zyklus versah der Komponist mit einer Reihe national musikalischer Ikonen. Da finden sich neben der Moldau auch „Böhmens Hain und Flur“, die Volksballade über die böhmische Amazonenkönigin Šárka, religiös motivierte Erinnerungen an Städte in Verbindung mit vergangenen Ritterorden und eben auch die Burg Vyšehrad, die als eine Art Leitmotiv herhält. Kurzum – ein Glanzstück orchestermusikalischer Nationalfolklore.
Bei der Betrachtung des Gesamtzyklus erklärt sich dann auch, warum die Moldau heute das bekannteste Stück aus dieser Zusammenstellung ist. Sie ist beispielsweise der einzige Part, in dem das Schlagzeug über kapellenartiges Klimbim hinausgeht; die große Trommel darf beispielsweise nur hier zur Ausmalung der Stromschnellen geradezu klangmalerisch glänzen. Becken und Triangel dürfen darüber hinaus beim Erreichen der Burg Vyšehrad einen regelrechten Hymnus abhalten. Die Dramaturgie ihrer einzelnen Abteilungen verhilft der Moldau also zu einer musikalisch nachvollziehbaren Geschichte.
Genau diese Dramaturgie gilt es aber auch im Kontext des gesamten Zyklus zu betrachten. Und da zeigt sich ein interessanter Effekt. Ihre Episodenhaftigkeit – ein Aspekt, der von Musikkritikern zur Lebzeit Smetanas generell oft als Schund abgetan wurde – führt nämlich auch dazu, dass Smetana vermutlich intuitiv reichere harmonische Wendungen genutzt hat, als in den anderen Teilen. Neben der inflationären und dadurch in den anderen Parts beliebig wirkenden Verwendung von Becken und Triangel fällt so häufig auch ein langes Verharren in demselben Tonartenraum auf.
Dieser Effekt findet sich unter anderem im fünften Satz über die Stadt Tábor oder im vierten Satz über Böhmens Hain und Flur. Auch beim eröffnenden Satz zur Vorstellung der Burg Vyšehrad muss man dies feststellen. Hier breitet Smetana fast 6 Minuten lang einen gefühlt wohligen Einheitsbrei über Es-Dur aus, den er ab und an mit Durchgängen über die Dominante B-Dur, deren verdurte Parallele G-Dur oder die Doppelsubdominante würzt. Die potenzielle Abwechslung durch diese kurzen Passagen wird jedoch meistens nicht hinreichend gefestigt, bevor das jeweilige Hauptthema wieder in seinem Ursprung ertönt. Die Folge – es beginnt zu langweilen. Ein Schema, dem ein Großteil der Gesamtkomposition folgt.
Obendrein ließe sich Smetanas Behandlung einzelner Orchesterstimmen als ausbaufähig bezeichnen. Damit sind nicht nur die häufigen Parallelführungen im Streicherapparat gemeint, die sich auch bei anderen Komponisten finden lassen. An vielen Stellen lässt der Zyklus eine einfache Drei- oder Vierklangsharmonik erkennen, die den Verdacht weckt, dass hier ein Klaviersatz auf ein Orchester übertragen wurde, ohne es kontrapunktisch aufzuwerten.
Vor diesem Hintergrund fällt gerade die Piccoloflöte auf, der einige Klangspitzen weniger gut getan hätten. Auch die Trompete oder der Bass dürfen nicht wirklich glänzen, sondern müssen über weite Strecken Akkordbrechungen, platte Signalstöße oder Quintfälle spielen. Gerade auch letzteres erzeugt zu oft verwendet durch die starke Schlusswirkung schnell ein Gefühl der Übersättigung. Spannung geht jedenfalls anders, das wusste bereits Beethoven, der in seiner vergleichbaren Pastoralen-Sinfonie in nur 30 Minuten Musik die Mittel gezielter, sparsamer und dadurch in Summe auch wirksamer zu verwenden wusste.
So ist die Folge, dass die kombinierte Musik der insgesamt sechs Abschnitte aus „Mein Vaterland“ sich irgendwann ausreizt, weil ihr die harmonischen Spannungen und die gezielte Verwendung der vorhandenen Klangfarben fehlen. Auch deshalb sticht die Moldau selbst aus diesem Zyklus heraus – in ihr sind die im Kontraste zueinander abgegrenzt. Das Orchester verkommt in ihr nicht nur zu einem Einheitsklanggemisch, sondern darf zeigen, dass es mehr kann.
In der Folge hat die Moldau nicht nur als ein kommerziell erfolgreiches Werk klassischer Musik mit einer an Überreizung zu grenzenden Aufführungspraxis zu kämpfen. Sondern sie ist fast schon automatisch mit einem Rattenschwanz weiterer Musik verbunden, die das Niveau dieser zwölfminütigen Komposition nicht unbedingt erreicht.
Eine Kontextualisierung wie im Fall der Moldau lässt sich positiv formulieren in dem Sinne, dass die Moldau durch ihre Einbettung in den Gesamtzyklus besonders heraussticht. Negativ formuliert ließe sich aber auch sagen, dass die Moldau durch ihre Kontextualisierung an Reiz und Wirkung verliert. Wäre sie also besser dran, wenn man sie grundsätzlich nur noch als selbstständiges Stück herausstellen oder in andere Kontexte einbinden würde? Über diese Frage ließe sich nachdenken.
Daniel Janz, 23. Juli 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 21: Ludwig van Beethoven – Tripelkonzert (1804)