Daniels Anti-Klassiker 44: Franz Schubert – Ave Maria (1825)

Daniels Anti-Klassiker 44: Franz Schubert – Ave Maria (1825),  klassik-begeistert.de

Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen.

Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

Die Jungfrau Maria – Inbegriff der Reinheit, christliche Ikone und Mutter von Jesus Christus – Symbol für die ewige Liebe und den Bund zwischen Gott und den Menschen. Als Gegenstand christlicher Glaubensüberzeugung lässt sich ihre Rolle kaum überschätzen. Die Liste der ihr zugesprochenen positiven Eigenschaften ließe sich entsprechend schier endlos fortsetzen. Deshalb ist es kein Wunder, dass ihr auch eine ebenso endlos erscheinende Reihe von Huldigungen zuteil wurden. Bekannteste musikalische Widmung dürfte wohl Ellens dritter Gesang – besser bekannt als „Ave Maria“ – von keinem Geringeren, als dem unbestrittenen Meister Franz Schubert sein. Doch was hat es mit diesem mittlerweile ikonografischen Gesang auf sich, dass er in eine Reihe überbewerteter Klassiker aufgenommen werden muss?

Ellens dritter Gesang gliedert sich ein in einen siebenteiligen Liederzyklus, den Franz Schubert basierend auf dem Gedicht „The Lady of the Lake“ von Walter Scotts vertonte. In diesem richtet das junge Mädchen Ellen auf ihrer Flucht vor dem König ein Stoßgebet an die Gottesmutter. Auch wenn der ursprünglich von Schubert vertonte deutsche Text heute oft durch den lateinischen Text des „Ave Maria“-Gebets ersetzt wird, bleibt der Bezug derselbe. Kein Wunder also, dass dieses Lied schnell über den Zyklus hinauswuchs und auch rege sakrale Verwendung fand.

Dabei war Schubert nicht der erste, der sich diesem Text widmete. Dutzende Vertonungen kennt diese Lobpreisung bereits, Größen wie Mozart, Saint-Saens, Rossini, Brahms und sogar Bach haben sich ihr ebenfalls gewidmet. Es kommt daher auch nicht überraschend, dass der Text mittlerweile auch eine enorme Reihe von modernen Referenzen aufweist:

https://www.quora.com/In-what-film-is-the-song-Ave-Maria-used-in-an-action-scene/answer/Pappu-Yadav-173

Auf den ersten Blick erscheint diese Liste von Bezügen auch durchaus nachvollziehbar. Wenn in Fantasia zu einer Chorversion des Ave Maria eine Pilgergesellschaft dem Sonnenaufgang entgegenwandert oder in „der Große Caruso“ die Lobeshymne andächtig vorgetragen wird, hat das etwas Feierliches. Filmtitel, wie „Diva“, „Moments of Charme“ und „Muriel’s Wedding“ passen da ebenfalls in Bild.

Schuberts Version ist bei all diesen Verwendungen mit die am häufigsten aufgegriffene. Und das verwundert auch nicht: Seine Vertonung sticht sowohl melodisch als auch harmonisch die Konkurrenz aus. Typisch für seinen Stil sind die überraschenden Wendungen, die nicht nur in Orchestereinspielungen geradezu raffiniert erscheinen. In der Kombination mit der Marienhuldigung dürfte der Grund liegen, warum sich gerade dieses Kunstlied bis heute populär im kulturellen Gedächtnis gehalten hat.

Wer sich aber genauer mit den Bezügen zu Schubert auseinandersetzt, der gerät ab einem bestimmten Punkt ins Stocken. Während „der Große Caruso“ oder Disneys Fantasia das Ave Maria originalgetreu verwenden, dürfte ein erster narrativer Bruch bei Titeln, wie dem Actionfilm „Machete“ festzustellen sein. Erstaunlich, ja regelrecht bizarr wird es dann bei Gewaltorgien, wie in dem Zombie-Horrorfilm „28 days later“, dem Horrordrama „American Mary“ oder den Videospielen „Batman: Arkham Origins“ und der Hitman-Reihe um den Auftragsmörder „Agent 47“:

Was ist da los, dass der Lobgesang auf die heilige und ewig reine Jungfrau plötzlich in solch einem Zusammenhang erscheint? Hatte die gute Maria etwa heimliche Hobbies, die in der Bibel vertuscht wurden? Man stelle sich das mal vor: Die Gottesmutter mit Jesuskind in der einen und Schrotflinte in der anderen Hand. Absurd?

Tatsächlich dürfte ein Grund dafür in der reichen – manche würden vielleicht sogar sagen „exzessiven“ – Rezeptionsgeschichte dieses Liedes liegen. Schuberts Ave Maria ist nicht nur die bekannteste Version dieses Lobgesangs. Der Text selbst wird auch so oft zur Aufführung gebracht, dass selbst völlig klassik- und kirchenferne Menschen mindestens die erste Strophe auf Anhieb erkennen, wenn nicht sogar auswendig mitsprechen können. Referenzen bis ins Absurde tun da nur ihr Übriges dazu:

https://www.youtube.com/watch?v=v83AxaoD

Die Folge dieses Ruhms ist leider aber, dass sich der Gehalt des Ave Marias ins Gegenteil umkehrt. Während es als ikonografischer Ausdruck von Reinheit und Unschuld seine Reputation errungen hat, ist dieser Ausdruck inzwischen so plakativ und klischeehaft, dass er ironisch, wenn nicht sogar satirisch wirkt. Deshalb funktioniert es mittlerweile bestens, wenn zu Schuberts Klängen auf dem Bildschirm reihenweise Menschen gefoltert, verstümmelt und in bester Splatter-Manier abgeschlachtet werden. Diese Musik schafft es durch ihre Bekanntheit nicht nur, solche Bilder ästhetisch zu verharmlosen, sondern der Bruch zwischen gezeigter Wirklichkeit und gehörter Illusion erscheint dadurch geradezu belustigend.

Deshalb hat das Ave Maria über die letzten Jahre erheblich an seiner ursprünglichen Ausdruckskraft eingebüßt. Der Text zum Lob und Heil der Jungfrau Gottesmutter steht inzwischen so sehr im Kontrast zum dazu Gezeigten, dass er lächerlich wirkt. Wären das einmalige Dekontextualisierungen, ließe sich noch im Sinne interpretatorischer Freiheit argumentieren. Die Verwendung im Sinne von Abmilderung und Verspottung exzessiver Gewaltprozesse ist inzwischen aber eher die Regel, als die Ausnahme. Ist das Ave Maria als Verherrlichungsgesang der Reinheit also überholt?

Für mich steht fest: Ist ein Werk erst so ausgereizt, dass es seinen Bedeutungsspielraum regelrecht ins Gegenteil umgekehrt hat, muss man die Frage nach der Überrezeption stellen. Denn Fakt ist auch: Das Ave Maria würde niemals in den Zusammenhang zu Gewalt, Folter, Mord und Todschlag gestellt werden können, wenn es als Instanz von Reinheit nicht bereits klischeehafte Züge angenommen hätte. Dass die andauernde und viel zu häufige Wiederholung diesen Ausdruck regelrecht plakativ, wenn nicht sogar lächerlich macht, ist eigentlich ein vermeidbarer Schaden.

Deshalb muss man in meinen Augen fragen, ob es nicht längst über-rezipiert wurde. Ein bisschen weniger kann oftmals mehr sein! Besonders wenn man sich bestimmte Kunstwerke als Ausdruck ihres ursprünglich beabsichtigten Inhalts erhalten möchte. In dem Sinne plädiere ich dafür, das Ave Maria durch sparsamere und dafür gekonnt zielgerichtete Aufführungen und Referenzen wieder in den Zusammenhang zu rücken, den es ursprünglich hatte. Das verlangt aber auch Mut von Veranstaltern und Komponisten gleichermaßen, einmal „Nein“ zu den „alten Klassikern“ zu sagen und stattdessen andere im gleichen Maße ergreifende Musik zu komponieren und aufzuführen. Wäre das nicht ein toller Vorsatz für das nächste Jahr? Ich möchte jedenfalls gerne dazu ermutigen.

Daniel Janz, 31. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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2 Gedanken zu „Daniels Anti-Klassiker 44: Franz Schubert – Ave Maria (1825),
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  1. Äh, welches Ave Maria von Bach meinen Sie? Er durfte doch nur die Begleitung zu Gounods Ave dingsbums schreiben, besser bekannt als das Ave Maria von Kuno Bach.

    Prof. Karl Rathgeber

  2. Lieber Herr Prof. Rathgeber,

    genau, dieses Ave Maria meine ich. Da es ansonsten aber nichts zum Inhalt dieses Beitrags beisteuert, außer der Referenz, habe ich mir weitere Ausführungen zu Bach/Gounod bewusst gespart.

    Daniel Janz

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