Foto: Neale Osborne – Modest Mussorgsky Russian composer 1839-1881 – (MeisterDrucke-645342)
Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees eines Genres erkannt sein. Doch die Klassische Musik beweist durch Vielseitigkeit und einen fast fundamentalistischen Hang zur Tradition, dass auch die Welt ihrer Klischees vielseitig ist. So zeigte unser Autor bereits 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur. Doch damit ist es noch nicht getan. Denn die Aufführungspraxis schafft stets neue. Andere blieben bisher unbeachtet.
Zehn neue Folgen widmen sich weiteren so genannten „Klassikern“, von denen man so übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.
von Daniel Janz
Durch die Promenade schreitet man von einem Gemälde zum anderen, lässt es auf sich wirken und genießt. Was gut in einem Museum stattfinden könnte, lässt sich in der Komposition „Bilder einer Ausstellung“ auch musikalisch nachempfinden. Aber Moment – wer das Werk kennt, weiß, dass davon zwei Versionen bekannt sind und sogar noch mehr existieren. Doch welche ist nun eigentlich die legitime, das „wahre“ Werk?
Der Zeit seines Lebens alkoholkranke Modest Mussorgsky, Nachkomme einer Adelsfamilie und Mitglied der so genannten „Gruppe der Fünf“ wird immer als eigentlicher Schöpfer dieser Komposition von 1874 genannt. Und man muss anerkennen, dass er derjenige war, der den Grundstein dafür legte. Wie auch seine Opern erlangte „Bilder einer Ausstellung“ schnell Bekanntheit. Man könnte also meinen, hier sei einem Kompositionsmeister ein Meisterwerk aus der Feder geflossen. Und dass Mussorgsky seine Komposition für Orchester zu Lebzeiten nie gehört hat, mag sogar Wink des Schicksals gewesen sein, wie bei Mozart. Aber ist dem wirklich so?
Fest steht, dass das Werk zunächst nur als Klavierzyklus erschien. Schon früh soll dieser andere Komponisten auch zu Orchesteradaptionen angeregt haben. Von Mussorgsky selbst existiert allerdings keine Orchesterfassung. Und damit steigen wir in ein Problem der klassischen Musik ein, das sich bereits durch die Jahrhunderte zieht: Komponisten, die vermeintliche Meisterwerke hinterlassen, ohne deren Potenzial auszuschöpfen. Denn Hand aufs Herz: Die Klavierversion von Mussorgsky zieht sich. Sie ist dröge, stellenweise langweilig. Als „Meisterwerk“ mag ich sie nicht bezeichnen.
Der Nachteil eines Klavierzyklus oder generell der Beschränkung auf eines oder wenige Instrumente (zum Beispiel in der Kammermusik) ist stets klangliche Einschränkung. Natürlich – wenige Instrumente bedeuten auch weniger Aufwand für Komponist und Aufführung. Manche Werke gelingen auch sehr gut für einzelne Instrumente, wenn sie die Vorzüge dieser Instrumente herausstreichen. Geraten sie jedoch zu lang oder schreiben Klangeffekte vor, die diese Instrumente nur schwer bis schlecht ausdrücken können, werden solche Kompositionen schnell Garanten für Tristesse.
Und genau dieses Problem zeigt „Bilder einer Ausstellung“ in seiner Ursprungsfassung. Mussorgsky versucht hier, am Klavier ebenjene Bilder zu beschreiben, die wir aus Ravels Orchesterversion in schillernden Farben, verschiedensten Klangeffekten, Kontrasten und Lautstärkespielen kennen.
Was bei Ravel fabelhaft funktioniert, ist in Mussorgskys Urversion jedoch nur ein Schatten seiner Selbst. Vergleicht man beispielsweise musikalische Bilder, wie den Gnom, das alte Schloss, den Ochsenkarren, die Katakomben oder das goldene Tor von Kiew, dann geht Mussorgskys Version gnadenlos unter. Ausdrücke, wie das Groteske, Plumpe, Deformierte, das erhaben Schöne verfallener Ruinen oder den düsteren Hauch des Todes kann das Klavier aufgrund seiner physischen Grenzen als Instrument nun einmal nur bedingt ausdrücken.
Kein Instrument – auch nicht in Kombination – kann solche Ausdrücke perfekt darstellen. Musik ohne Worte bleibt stets unspezifisch. Trotzdem gibt es Instrumente, die gewisse Ausdrücke besser intonieren, als andere. Und langgezogene Liegetöne oder der Ausdruck vom Majestätischen sind nicht die Stärke vom Klavier. Ergreifen kann dieses Instrument eher durch bewegte, lyrische Passagen und rasante Läufe. Von denen hat „Bilder einer Ausstellung“ auch einige, beispielsweise in den Tuilerien, im Ballett der unausgeschlüpften Küken oder dem Marktplatz. Stellen wie diese sorgen dafür, dass das Werk als Klavierversion nicht in purer Langeweile endet.
Das dürfte wohl auch der Grund gewesen sein, warum Ravel diese Musik letztendlich aufgriff, um sie für Orchester umzuschreiben. Er dürfte in ihr Potenzial erkannt haben, das Mussorgsky entweder verborgen blieb oder das er nicht ausschöpfen wollte. Hätte er es gewollt, hätte der musikalische Autodidakt in seinem kurzen Leben noch mehrere Jahre Zeit gehabt. Und als Opernkomponist war er auch im Umgang mit dem Orchester erfahren. Dass er diese Komposition also nicht auf einen Orchestersatz übertrug, lässt nur einen Schluss zu: Ravel war der bessere Komponist. Spannend auch, dass Ravel in seiner Orchesterversion gleich ganz auf das Klavier verzichtet hat und so noch einmal Mussorgskys Instrumentenwahl infrage stellte.
Und trotzdem ist und bleibt Mussorgsky im Konzertbetrieb derjenige, der bei Aufführungen dieses Werks immer als Erster (und manchmal Einziger) genannt wird. Unfair ist das schon deshalb, weil Ravels Anteil am Klangspektakel der heute bekannten Orchesterversion viel größer ist, als der von Mussorgsky. Zugegeben, die Melodien sind nicht auf Ravels Gedanken gewachsen. Und an manchen Stellen hätte man sich auch eine Erweiterung von Ravel wünschen können. Aber selbst wenn man wie er bei Mussorgskys Ausgangsmaterial bleibt, ist eine Melodie nur so gut, wie die Art ihrer Darbietung. Und die bleibt bei Mussorgsky schlicht ausbaufähig.
Meiner Meinung nach ist es daher ein Unding, Mussorgsky so viel und Ravel so wenig Anteil an der heutzutage verbreiteten Orchesterversion zuzuschreiben. Nicht selten erlebt man in Konzerteinführungen sogar, dass von Mussorgsky eine halbe Biografie und von Ravel nicht einmal der Name präsentiert wird.
Deshalb hier mein Vorschlag, wie ich es in der Aufführungspraxis korrekter fände, diese Komposition in Zukunft zu bewerben: Maurice Ravel, „Bilder einer Ausstellung“ nach einem Klavierzyklus von Modest Mussorgsky.
Daniel Janz, 12. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker – 50: Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 5 (1808), klassik-begeistert.de
Ich fand als Jugendlicher Mussorgskis Bilder einer Ausstellung so genial, dass ich meine Klavierlehrerin ein Jahr lang nervte, um endlich dahin zu kommen, sie wenigstens im Freundeskreis spielen zu können. Und dann schaffte ich es, dass meine an Klassik völlig desinteressierten Ruderkameraden andächtig zuhörten! Somit gehört dieser Klavierzyklus zu meiner Lebenshistorie und ich werde nie von der Überzeugung lassen, dass er zum Wertvollsten zählt, was für Klavier geschrieben wurde. Genial finde ich vor allem, wie die Promenade bei ihrer mehrmaligen Wiederkehr schildert, wie die Wirkung der Bilder die Stimmung des Betrachters verändert hat, und sich am Ende sogar in das Glockenläuten mischt.
Ravels Orchesterfassung ist ebenso genial, auch wenn ich selber eine gewisse Barriere spüre, weil meine Klangfantasie oft in eine andere Richtung weist. Aber ohne Zweifel ist das für viele eine gute Einstiegsdroge in die klassische Musik. Ansonsten darf meinetwegen gerne erlaubt sein, was gefällt!
Beste Grüße,
Lorenz Kerscher