Foto © Sofia Opera and Ballett
Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees erkannt sein. Doch die Aufführungspraxis schafft stets neue. Obwohl unser Autor bereits
über 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur behandelte, ist ein Ende noch nicht in Sicht. Deshalb widmet er noch drei weitere Folgen so genannten „Klassikern“, von denen man derart übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre fast fundamentalistische Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, auch ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.
Daniels Anti-Klassiker 58: Wagners „Ritt der Wallküren“ – oder ein Beispiel für den Kampf, sich von einmal geschaffener Umdeutung zu befreien.
von Daniel Janz
Musik als ikonisch zu bezeichnen, ist ein Lob für die Besten der Besten. Dafür braucht es ein besonderes Maß an Wiedererkennungswert und Fülle, technischer Ausgereiftheit und emotionalem Potenzial. Dazu gesellt sich oft eine große Portion Genieästhetik und Legendenerzählung. Und selbst, wenn Werke all diese Aspekte miteinander verbinden, gehen sie nicht unbedingt als Meisterwerke in die Geschichte ein. Dazu braucht es mindestens noch einen weiteren Punkt: kulturelle Verbreitung.
Kulturelle Verbreitung ist zunächst nichts Schlechtes. Das eigene Werk oft und wiederholt aufgeführt zu wissen, dürfte schließlich der Traum jedes Komponisten sein. Der Prozess der kulturellen Verbreitung ist jedoch nie neutral. Allzu oft spielen finanzielle Interessen, Personenkult oder Ideologie eine entscheidende Rolle dabei.
Ein Beispiel dafür, wie dieser Prozess ein Werk bis heute beeinträchtigt, ist der „Ritt der Walküren“ aus Richard Wagners Oper „Die Walküre“. Als Teil von Wagners „Ring der Nibelungen“ steht sie nach dem „Rheingold“ an zweiter Stelle und schildert den Fall Brünhildes von göttlichen Gnaden in einer Mischung aus Tragik und sich selbst erfüllender Unheils-Prophezeiung ihrem Vater Wotan gegenüber. Dabei wechselt die Oper stets zwischen irdischen und himmlischen Sphären, wobei der Walkürenritt zum Beginn des dritten Aktes einen dramaturgischen Höhepunkt darstellt.
Schon früh erlangte dieser Part Kultstatus. Als musikalische Charakterisierung der mit übermenschlicher Kraft gesegneten Walküren, die als Anführerinnen des von Wotan gesammelten Heers aus gefallenen Helden agieren, kleidete Wagner diese Musik in so pathetische Klänge, dass der Begriff „Überwältigungsästhetik“ am besten passt. Zum Ausdruck der Überlegenheit führt spicken mit kräftigen Bläserstößen, flirrenden Streichern und mächtiger Schlagzeugeinsatz zum Höhepunkt dieses Stück.
Diese ergreifende Musik erfuhr neben ihrer kulturellen Verbreitung in Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts aber auch eine ideologische Umdeutung, die sie seitdem begleitet. Eine Misere, für die Wagner selbst durchaus mitverantwortlich ist. Bis heute berüchtigt ist seine widerwärtige Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“, in der er behauptet, Juden seien zu wahrer Empfindsamkeit und Verständnis von Musik unfähig. Ein Pamphlet mit dem Ziel, das „Judentum in der Musik“ auszulöschen.
Nicht zuletzt dieser entscheidende Beitrag zum Antisemitismus führte zur faschistischen Instrumentalisierung seiner Musik. Hitlers Bewunderung für Wagner plus Wagners latenter Judenhass machten dieses die übermenschliche Überlegenheit thematisierende Werk für die Propaganda des dritten Reichs wie geschaffen. Eine Ausschlachtung durch diejenigen, die sich in ihrem Faschismus selbst für überlegen hielten: Kaum fielen die Bomben, da verherrlichten die Nazis ihre Kriegsverbrechen durch Wagners Walkürenritt in der Wochenschau. Ein Schritt, den sich auch Japan von ihnen abschaute und diese Musik in ebenso faschistischem Kontext benutzte.
Wagner-Freunde führen dazu an, dass dies doch eine Entkontextualisierung sei. Gleichzeitig hat sich der Umgang mit Wagners Musik von dieser Konnotation aber bis heute nicht richtig emanzipiert. Bis heute liegt ihre Verbindung mit faschistischer Überlegenheitsideologie so tief, dass sie in Israel nicht aufführungsfähig ist. Und anstatt diese Umdeutung aufzuarbeiten und zu revidieren, ist es, als würde man sie ausklammern. Worüber aber niemand spricht, das festigt sich. Denn spätestens mit dem Film „Apocalypse Now“ erreichte diese Umdeutung unsere Popkultur. Dort ziert der „Ritt der Walküren“ jene Szene, in der Lieutenant Colonel Bill Kilgore im Stil der NS-Wochenschau einen Luftangriff auf ein vietnamesisches Dorf befiehlt – derselbe Truppenführer, der im Film erklärt: „Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen“.
https://www.youtube.com/watch?v=VE03Lqm3nbI
Natürlich muss man bedenken, dass Regisseur Francis Ford Coppola hier einen Antikriegsfilm drehte. Ebenjene Szene benutzte er also zur Veranschaulichung der Gräuel und Menschenverachtung im Krieg. Als Untermalung dieser Gräuel schien ihm Wagners Musik aber gerade recht. Ob durch ihre Überwältigungsästhetik oder ihre Umdeutung durch die Nazis: Was soll diese Verwendung im Film anderes sein, als wieder ein Ausdruck von Faschismus und Überlegenheitsideologie?
Und darauf aufbauend finden sich zig weitere Verwendungen. Ob ironisch, wie bei „The Blues Brothers“ oder „Er ist wieder da“, oder als Ausdruck der Überlegenheit im Film „Watchmen“, durch den Wrestler Daniel Bryan oder den Fußballverein SpVgg Bayreuth… selbst im Videospiel „Far Cry 3“ von 2012 ertönt der „Walkürenritt“ in einer Sequenz, in der der Spieler aus einem Helikopter heraus für seine Gegner unerreichbar Horden feindlicher Kämpfer niederschießt. Ist das noch heroisch? Oder eine zu wenig reflektierte Reproduzierung? Es hat jedenfalls schon den Charakter von kultureller Festschreibung, wenn diese Musik als Symbol für Überlegenheitsfantasien so gut funktioniert, dass sich sogar die Simpsons darüber lustig machen:
https://www.youtube.com/watch?v=Bd5FkBwOfZU
Dabei hat diese Musik viel mehr zu bieten als das, womit Faschisten sie aufgeladen haben. Einige Gegenbeispiele, wie in „Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“, „Mein Name ist Nobody“, „Bango“, die „Minions“ und diverse Werbespots zeigen, dass es auch anders geht. Überwältigung bedeutet eben nicht nur Überwältigung durch Überlegenheitsfantasien. Es kann auch Überwältigung der Wahrnehmung, die Schönheit der Natur oder Überwältigung durch Gefühle sein, um nur ein paar Ideen zu nennen. Die hier zuletzt genannten Beispiele machen also eigentlich nichts Neues.
Das Problem bleibt aber, dass diese Deutungen in der bisherigen kulturellen Verbreitung immer noch eine unterrepräsentierte Perspektive darstellen. Solange das so bleibt, werden verständlicherweise aber auch Leute nach Boykott von Wagners Musik verlangen. Denn dass aufrichtige und selbstkritische Aufarbeitung selbst Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg nur in Ansätzen stattgefunden hat, sieht man nicht nur an Hollywood oder Computerspielen. Auch die kultartige Verehrung und Vermarktung von Wagner als Mensch und seiner Nachkommen spricht dafür.
Warum sind zum Beispiel die Bayreuther Festspiele als Pilgerstätte zum Andenken an Wagner immer noch in der Hand seiner Erben, trotz ihrer unrühmlichen Rolle im Nationalsozialismus? Warum ist Wagners „Genie“ aber nicht seine Schundschrift Gegenstand von gefühlt jeder Einführung zu seiner Musik? Warum ist sein Hass in der Allgemeinbildung ein blinder Fleck? Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die den Boykott verlangen! Zensur und Boykott sind aber immer die schlechtesten Mittel der Wahl. Denn sie sind gleichzeitig auch Bankrott-Erklärung an die eigene Kultur, etwas aufzugreifen und in einen förderlichen Kontext umzudeuten.
In meinen Augen hat es Daniel Barenboim richtiggemacht, als er 2001 genau das versuchte und Wagner in Israel aufführen wollte – allem Boykott zum Trotz! Meiner Meinung nach braucht es solche Ansätze, um der Frage zu begegnen, wie unsere kulturelle Verbreitung Wagners Musik allgemein und den „Ritt der Walküren“ im Speziellen nicht nur ernsthaft, sondern auch endgültig von der durch die Nazis geschaffenen Umdeutung emanzipieren kann. Mal davon abgesehen, dass es ja auch großartige Musik ist. Es wäre schön, all dies auch wieder nur als Musik und nicht als Symbol einer menschenverachtenden Ideologie wahrnehmen zu können.
Daniel Janz, 15. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels Anti-Klassiker 57: „Star Wars“ klassik-begeistert.de, 2. März 2025
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Daniels Anti-Klassiker 55: Gershwins „Rhapsody in Blue“ klassik-begeistert.de, 12. Januar 2025