Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Erinnern Sie sich noch an den Werbespot aus dem Jahr 2009, der mit einer Frau beginnt, die jene Melodie, dieses vorsichtige mit leichtem Unbehagen behaftete Heranschleichen vor sich hin pfeift? Wenn ja, dann ist sicher auch die Erinnerung noch präsent, wie jede Person, die mit ihr oder einem bereits „Infizierten“ in Kontakt kommt, ebenfalls in das Pfeifen dieser Melodie mit einstimmt. Eine Musik, die sich ausbreitet, wie ein Virus. Was könnte aktueller sein?
Wie der seinerzeit gefürchtete Schweinegrippevirus schreitet auch diese Musik voran, die uns allen wohl ähnlich präsent sein dürfte. Im Gegensatz zum damaligen Werbefilm des Robert-Koch-Instituts ist ihr jedoch durch einfaches Händewaschen nicht beizukommen. Ihre Bekanntheit geht über kurzweilige Spots hinaus. Nicht nur deshalb bedienten sich dutzende andere Reklamen bereits dieser Musik, egal ob für Lieferanten, Möbelhäuser, Autos die sich im Ballett zu Schrott fahren, international bekannte Limonaden oder Spielkonsolen… eine gefühlt unendliche Liste lässt sich hier fortführen.
Edvard Grieg heißt der Komponist dieser so oft rauf und runter gedudelten Melodie. Sie stammt aus seiner halbstündigen, in zwei Parts geteilten „Peer-Gynt-Suite“ und ist unter dem Titel „Die Halle des Bergkönigs“ in Deutschland bekannt. Auch wenn andere Teile dieser Komposition ebenfalls bereits Einzug in Werbung und Medien gefunden haben – noch vor wenigen Jahren hätte an dieser Stelle die „Morgenstimmung“ aus derselben Suite stehen müssen – , so ist dieser Part inzwischen am meisten rezipiert. Es ist eines jener Stücke, die querbeet durch alle Medien so oft zu hören sind, dass sie schlicht nur noch nerven.
Dabei ist das, was Grieg geschaffen hat, so wunderbare Musik. Ursprünglich als Bühnenwerk zur Vertonung des Gedichts „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen konzipiert, komponierte Grieg dieses Werk ab 1888 in eine Orchestersuite um, um es auch außerhalb Norwegens unter Verzicht der Dialoge bekannt zu machen.
Die schnell gewonnene Popularität insbesondere der ersten viersätzigen Suite hat sich bis heute erhalten, der gesamte Zyklus ist regelmäßig auf Spielplänen von Konzerthäusern zu finden. Die Reichweite dieser Musik geht aber über die Aufführungspraxis weit hinaus. Die kommerzielle Vermarktung ist nur ein Aspekt. Darüber hinaus findet sie sich auch als ein regelrechter Folterohrwurm massenhaft in Film und Serien wieder, wie beispielsweise in „Orange ist the New Black“, „How I met your mother“, „Simpsons“, „Dr. House“, „Mad Men“ und weiteren.
Und nicht einmal da machen die modernen popkulturellen Referenzen Halt. Ein Blick auf Internetportale eröffnet eine noch darüber hinausgehende Verbreitung, inklusive diverser Neuinterpretationen. So finden sich beispielsweise Aufnahmen unter anderem durch das Device Orchestra, einem Ensemble das ausschließlich aus alten Elektrogeräten besteht, als Jazz-Interpretation, als Hintergrundmusik zu Katastrophenmeldungen aus dem Jahr 2020 oder zu bekannten Computerspielen und selbst als Performance auf leeren Röhrenchips-Packungen einer etablierten Marke. Die internationalen Abstrusitäten kennen inzwischen sogar ein Brettspiel mit dem Titel „In the Hall of the Mountain King“.
Bedauerlich ist, dass diese Popularität heutzutage mit einer immensen medialen Ausschlachtung verbunden ist. Die Musik ist so bekannt, dass sie sich als Assoziation von Bekanntheit und Vertrauen zu gut eignet. Dass sie dadurch komplett aus ihrem dramaturgischen Kontext und der Ausstrahlung einer Konzertaufführung gerissen wird, hat automatisch auch eine Banalisierung zur Folge. Wer, außer eingefleischten Kennern, begreift sie denn noch als Teil eines lyrischen Zyklus, geschweige denn als Vertonung eines Gedichts? Man könnte auch fragen, ob die heutige Praxis nicht ein Weg ist, ein Kunstwerk zu zerstören.
Beobachten lässt sich dieser Prozess bereits an der Rezeption des ersten Satzes „Morgenstimmung“. Die fröhlich heitere Flötenmelodie zum frischen Fließen der Streicher dürfte mindestens ebenso bekannt sein, wie das zunächst vorsichtig vor sich hinschreitende Fagott, das nach und nach die Szene erkundet, nur um dann vom Einsetzen des ganzen Orchesters niedergestampft zu werden. Im Gegensatz zur „Halle des Bergkönigs“ findet sich in den letzten Jahren aber nur noch selten eine mediale Rezeption der „Morgenstimmung“ wieder – es scheint fast, als hätte sich diese Musik in ihrem Vermarktungsgrad erschöpft.
Noch ist die „Halle des Bergkönigs“ nicht an diesem Punkt angekommen. Es könnte aber durchaus passieren, dass uns dies in einigen Jahren ebenfalls droht. Es ist grundsätzlich begrüßenswert, wenn Medien zur Verbreitung von Musik im Allgemeinen und klassischer Musik im Speziellen beitragen. Wenn dies aber dazu führt, dass sie ausgereizt und auf den Friedhof kultureller Errungenschaften abgeschoben wird, dann sollte auf diese Art der Vermarktung doch lieber verzichtet werden.
Daniel Janz, 16. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 7: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 in d-Moll „Ode an die Freude“ (1824)
WDR-Sinfonieorchester, Grieg & Mahler, Jukka-Pekka Saraste, Kölner Philharmonie, 28. Juni 2019
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