Daniels Anti-Klassiker 54: Die Falschheit unseres pseudo-religiösen Konzertkanons lässt sich an Mozarts Jupiter-Sinfonie perfekt illustrieren

Daniels Anti-Klassiker: Mozarts Jupiter-Sinfonie  klassik-begeistert.de, 8. Dezember 2024

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Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees eines Genres erkannt sein. Doch die Klassische Musik beweist durch Vielseitigkeit und einen fast fundamentalistischen Hang zur Tradition, dass auch die Welt ihrer Klischees vielseitig ist. So zeigte unser Autor in der Vergangenheit bereits 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur. Doch damit ist es noch nicht getan. Denn die Aufführungspraxis schafft stets neue.

Zehn neue Folgen widmen sich weiteren so genannten „Klassikern“, von denen man so übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.

von Daniel Janz

Ah, wer kennt nicht dieses Juwel im Schaffen des „ganz großen Meisters“? Als letzte Sinfonie Mozarts ist seine „Jupiter-Sinfonie“ mit dem sperrigen Originaltitel „Symphonie Nr. 41 in C-Dur, KV 551“ eine der am häufigsten gespielten Sinfonien überhaupt. Wenn von höchster Musikkunst die Rede ist, ist sie das Beispiel schlechthin. Allzu oft bezeichnet man sie wegen ihrer Machart und Stellung in Mozarts Leben auch als jene Sinfonie, in der er noch einmal all sein Können kulminiert und in gottgleicher Weise offenbart haben soll. So entwickelte die „Sinfonie mit der Schlussfuge“ einen Ruf, der sie in den ewigen Olymp aller Musik erhob – und das völlig zu Unrecht!
Beginnen wir zunächst musikalisch: Mozarts letzte Sinfonie ist für seine Verhältnisse ein technisch ausgereiftes Werk. Musiktheoretiker haben bis heute ihre rege Freude daran, dieses Stück in seine Sätze und Themen zu zerlegen. Worüber Lehrer schwärmen und Musikschüler stöhnen dürften, zeigt sich in der Umsetzung sicher mit einem gewissen Reiz.

Wie für Mozart typisch ist, besteht dieses Werk allerdings aus 5 Minuten Material und 25 Minuten Materialverschleiß. Das zeigt schon der erste Satz: Nach 55 Takten hat man bereits alles gehört. Substanziell kommt danach nichts Neues mehr, sondern nur noch sprödes Wiederkäuen. Überraschende Momente und Wendungen verlieren dadurch aber ihre Wirkung, schnell wird es trocken. Am reizvollsten ist da noch die Fuge im letzten Satz. Die ist aber schon vorbei, bevor sich Spannung überhaupt aufbauen kann. Das muss man mögen! Heutzutage reizt das kaum noch jemanden.

Aber selbst wenn man diesen Stil mag, ist an dieser Sinfonie nicht ihre vermeintlich technische Ausgereiftheit bemerkenswert, denn auch andere Mozartkompositionen erreichen ein ähnliches Niveau. Was mit dieser Komposition zusätzlich verbunden wird, ist ein derart hohes Maß der Mystifizierung, dass es schon an Heiligenverehrung grenzt. Reden wir über Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ – eine Bezeichnung, die nicht einmal vom Komponisten selber stammt – dann scheint vor allem eine kulthafte, pseudo-religiöse Überhöhung vorzuherrschen.

Bereits zeitgenössische Quellen überbieten sich in Lobhudelei. Was muss man lesen von „Triumphgesang kraftbewusster Herrlichkeit“, „Bezwingen der Materie zu edler Geistesform“, „göttlicher Vollkommenheit“, Jupiter als „Gebieter über Welt und Welten, Schöpfer der absoluten Schönheit“ oder Mozart, der „selbst als Gott“ erscheint… Ja allen, die diese Musik hören, scheint der Messias ein zweites Mal zu erscheinen und sein Name lautet „Wolfgang Amadeus“. Warum hängen bei solchen Offenbarungserlebnissen in unseren Kirchen heutzutage noch Kreuze und keine Mozartbüsten?

All diese Aussagen überschätzen die Musik dermaßen, dass es heute an Lächerlichkeit grenzt. Für uns als Kenner von den Werken Wagners, Mahlers, Messiaens und vielen anderen, ist Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ im besten Fall eine solide, wenn auch überbewertete Komposition. Im schlimmsten Fall reiht sie sich in die endlos erscheinende Liste von Mozartkompositionen ein, die zu direktem Tiefschlaf führen. Es ist faszinierend, wie sich an der Materie dieses Werks über die Jahrhunderte substanziell kaum noch was getan hat, während die schwärmerischen Ausschweifungen fantasiebegabter Interpreten selbst heute keine Grenzen kennen.

All diese Floskeln deuten an, dass diese Musik nur noch deshalb funktioniert, weil in sie eine Vorstellung gedeutet wird, bei der fraglich ist, ob sie vom Komponisten überhaupt vorgesehen war. Dadurch ist diese Sinfonie nicht nur Paradebeispiel für fragwürdige Glorifizierungen, die man womöglich als Fehlinterpretation bezeichnen könnte. Sie zeigt auch, dass das Publikum mehr braucht, als eine bloße Abfolge von Noten. Sei es ein Name oder ein Programm… wie schon im letzten Anti-Klassiker scheint die Verbindung aus Musik und Vorstellung entscheidend zu sein.

Hier scheint die Vorstellung in der vermeintlich göttlich inspirierten Botschaft zu liegen. Dabei gilt die daraus entstehende Überhöhung nicht nur bei Mozarts letzten Sinfonie. Dieselben Diskussionen (und damit die gleiche Aufführungspraxis) begegnet uns auch bei Werken, wie Beethovens neunter, Schuberts achten „Unvollendeten“, den Sinfonien von Brahms oder Bruckner, Mahlers Lied von der Erde sowie seiner neunten oder zehnten Sinfonie oder Schostakowitschs 15. Sinfonie.

Sie alle sind rege gespielte und noch viel reger diskutierte Stücke, denen in ihrer Mystifizierung geradezu religiöse Qualitäten zugedichtet werden. Es ist, als wäre besonders den Spätsinfonien der so genannten „Meister“ eine außerordentliche Stellung gewiss – als direkte Himmelsbotschaften oder Offenbarungen, die auf einer Stufe mit Gotteswundern stehen. Als wären sie das neue Testament unserer Kultur und diese Komponisten die modernen Propheten – was gelinde gesagt Quatsch ist!

Diese Perspektive verkennt nicht nur, dass all diese Kompositionen Ergebnisse rein menschlicher Handwerkskunst darstellen. Sie ignoriert auch hunderte, wenn nicht tausende anderer Kompositionen, die mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar besser sind. Genauso, wie sie sich auf eine kleine Gruppe einzelner hochgepriesener Gestalten beschränkt. Warum soll eine „Jupiter-Sinfonie“ von Mozart beispielsweise „göttlicher“ sein, als Ansger Hameriks Chorsinfonie, Hindemiths „Sinfonie von der Harmonie der Welt“, „Exodus“ von Wojciech Kilar oder Charlotte Sohys Sinfonie in cis-Moll? Ja, selbst Mahlers monumentale Auferstehungssinfonie wird trotz ihrer Thematik und ihrer Beliebt- und Bekanntheit bei weitem nicht so überglorizifiert.

Die besondere Stellung der Spätsinfonien „großer Meister“, für die Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ das Paradebeispiel ist, erklärt sich in meinen Augen nur aus einer Mischung von Personenkult und werbewirksamer Genieästhetik. Ein Stück Musik lässt sich nun einmal viel besser verbreiten, wenn man dazu eine gute Geschichte erzählen kann. Ist diese Geschichte auch noch vermeintlich göttlichen Ursprungs, dann hat man ein Werk für die Ewigkeit. Das ist marketingtechnisches Gold!

Es wäre spannend einmal zu untersuchen, inwiefern die Qualität der Musik bei so einem Hintergrund überhaupt noch eine Rolle spielt. Meine Vermutung ist, dass Mozart (oder einer der anderen vorher genannten „großen Meister“) selbst den größten Mist hätte aufs Notenpapier klatschen können, wenn es sich nur als Spätwerk in einen vermeintlich überirdischen Bezug stellen ließe. Denn: Was könnte schon hochwertiger sein, als eine direkte „Gotteseingebung“? Wenn man sich in solchen Sphären bewegt, dann braucht es keine anderen Qualitätsmerkmale mehr.

Das Nachsehen hat dabei unsere Konzertkultur. Denn was man lange Zeit als „höhere Gewalt“ verkaufen konnte, hat heute seine Wirkung verloren. Sieht man sich diese Musik einmal ohne Brille der Glorifizierung an, dann fällt auf: Außer ihrem Ruf hat sie oft nicht so viel zu bieten. Ein zahlreiches und vor allem junges Publikum kann man mit einer „Jupiter-Sinfonie“ jedenfalls schon lange nicht mehr anlocken. Vielleicht wäre es also an der Zeit, sich von solchen Narrativen zu verabschieden.

Daniel Janz, 8. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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