Quelle: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/mel-bonis
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die Geschichte wegen ihres Geschlechts diskriminierter Frauen reicht Jahrhunderte zurück. Berufsverbote, Unterdrückung, Demütigung, Sexismus… die Liste von Repressalien, unter denen sie in Europa noch vor nicht allzu langer Zeit zu leiden hatten (und in anderen Teilen der Welt immer noch leiden), ist lang. Auch diese Kolumne berichtete bereits über entsprechende Fälle. Dass solche sozial-gesellschaftlichen Verirrungen auch große Talente beeinträchtigten, zeigt das heutige Beispiel von einer mutigen und fähigen Frau, die wegen dem ihr entgegenschlagenden Sexismus ihre Musik nur unter Pseudonym veröffentlichte: Mel Bonis.
Wie schon Dame Ethel Smyth, Fanny Hensel, Amy Beach und andere in dieser Kolumne erwähnte Komponistinnen, war die 1858 in Paris geborene Mélanie Hélène Bonis Opfer von geschlechtsbedingter Diskriminierung. Denn auch ihr begegnete das Vorurteil, Frauen könnten keine ernsthafte Musik komponieren! Sogar Zeitgenosse Camille Saint-Saëns soll sie lange Zeit für unfähig gehalten haben, obwohl er ihr nach der Uraufführung ihres Klavierquartetts in B-Dur zugestanden haben soll, „alle geschickten Tricks des Komponistenhandwerks“ zu beherrschen. Ein Lob, das ungehört verhallte. Denn egal, wie viel Faszination damals wie heute von ihren Werken ausgeht, gegen institutionalisierten Chauvinismus hilft das wenig.
Dass auch ihre Musik häufiger in unsere Konzertsäle gehören würde, beweisen ihre fast 300 hinterlassenen Kompositionen – neben Solowerken für Klavier und Orgel oder zahlreichen Kammermusiken und Liedern sind auch elf Werke für Orchester bekannt. Alle sind sie zwar leider ernsthaft unterrepräsentiert. Aber verfügbar ist diese Musik – viele Werke sogar über renommierte Verlage.
Drei dieser Werke lassen sich wunderbar zu einem Programm zusammenfassen: Einmal ihr Opus 100 Nr. 2 „Salomé“, ihr Opus 165 Nr. 2 „Ophélie“ und ihr Opus 18 Nr. 2 „Cléopâtra“, die als Tryptichon unter dem Namen „drei legendäre Frauen“ bekannt sind. In diesen drei charmanten Orchesterszenen – die ersten beiden sind jeweils nur ca. 5 Minuten lang – nimmt Mel Bonis eine impressionistische Charakterisierung jener drei namensgebenden Frauen der Weltliteratur vor. Alle drei Kompositionen entstanden kurz vor dem ersten Weltkrieg als Teile eines Klavierzyklus’ über legendäre Frauen. Auch die Orchestrierung geht auf Mel Bonis zurück.
Als Zyklus führen diese Kompositionen in drei spannende Welten ein. So erzählt Salomé von der Tochter des Herodes Antipas. Laut Bibel verführte sie ihren Vater bei einem Fest mit einem erotischen Tanz, sodass sie nach dessen anschließendem Eid den Kopf von Johannes dem Täufer auf einem Silbertablett fordern konnte. Zwar scheint Mel Bonis diese Geschichte nach erstem Höreindruck nicht zu vertonen. Auffällig sind aber die in diese Charakterszene einführenden Hörner auf Bordunquinte, die ein Klangbild römisch/israelischer Antike vermitteln. Gewürzt wird diese Szene durch aufblitzende Stöße von Holz und Streichern, sowie Triangel und Tambourin.
Dieses tänzerische Moment klingt bei Mel Bonis – im Gegensatz zu beispielsweise Richard Strauss – weder grausam, noch bösartig. Stattdessen beginnt es in einer Leichtigkeit, die sich bis aufs ganze Orchester ausbreitet. Es folgt eine Art impressionistischer Klangrausch, der vor allem Sphären der Mystik und Exotik streift. Wie eine Schlange kriecht das thematische Hauptmotiv stetig durch die abwechslungsreichen Instrumentalpassagen, ehe es sich in einen Ausklang wie aus Tausend und einer Nacht ergießt. Das ist eine wunderbare Szene, in der Potenzial für noch viel mehr steckt!
Ophélie dürfte an die Figur aus Shakespeares Hamlet angelehnt sein, die ihren Geliebten Hamlet im Auftrag ihres Vaters Polonius aushorcht und, nachdem Hamlet ihn ermordet hat, selber im Wahnsinn zu Tode kommt. Die Harfentöne, mit denen Mel Bonis zu flirrenden Streichern einsteigt, betonen vor allem den Aspekt der Schönheit. Ophelia präsentiert sie als eine in sich ruhende Grazie, die durch Oboensoli immer wieder aus dem mit aufblitzenden Klangspitzen getüpfeltem Streicherchor hervortritt. Die Folge ist ein Fluss der Empfindungen, der in stetem Auf und Ab eine ganz zauberhafte Wirkung entfaltet. Das konnte auch Ravel nicht besser!
Anmutig erscheint auch Cleopatra, die den Abschluss dieser Konstellation bildet. Die historisch belegte, letzte Königin Ägyptens dürfte nicht erst seit der jüngsten Netflix-Kontroverse über ihre Hautfarbe bekannt sein. Bei Mel Bonis tritt sie erst als Klarinetten-, dann als Englischhornsolo zu einem Flageolett-Streicherreigen auf. Ein von Anfang an sehr zuversichtliches Bild mit leicht orientalistischem Anklang. Und auch diese Szene ist mit steten filigranen Klangfiguren gespickt. Dazu streicht Mel Bonis auch die Royale Größe dieser Figur durch warme Bläserstöße und den tragenden Klang von Pauke und Trommel heraus.
Das ergibt ein Spannungsbild zwischen Zartheit und Machtschauspiel. Und mit fast 10 Minuten Spieldauer ist Cleopatra in diesem Zyklus auch die Komposition mit dem größten Schwerpunkt; immerhin dauert sie genau so lange, wie die beiden vorherigen zusammen. Was dieser Komposition darüber hinaus zugute kommt, ist auch die ein oder andere Wiederholung. Dadurch festigen sich ihre schillernden Themen trotz impressionistischem Musikfluss im Gedächtnis. Diese Szene wird damit zu einem gelungenen Abschluss, wenn man all diese 3 Werke zu einer Aufführung zusammenfasst.
In Summe ergeben diese 3 Orchesterstücke einen spannenden Vergleich von 3 sehr unterschiedlichen Charakteren. Diese Kurzcharakterisierungen erzeugen gerade auch durch ihre Kontraste eine ergreifende Wirkung. Und obwohl dieser Musik das Eingänge eines Mozarts oder Beethovens fehlt, ist sie doch ein sehr sinnliches Erlebnis, das für sich genommen bereits die Aufführung lohnt. Eigentlich also ein Garant für ein tolles Konzerterlebnis!
Dass solche Werke trotzdem so gut wie nie im Konzertsaal erklingen, ist eigentlich ein schlechter Witz. Damit bleiben Misserfolgsgeschichten wie von Mel Bonis Beleg dafür, dass Talent, Fähigkeiten und Kreativität bis heute nur selten die ausschlaggebenden Faktoren im Kulturbetrieb sind. Das Geschlecht mag inzwischen eine geringere Rolle spielen, als früher. Über Anerkennung, Erfolg und damit Aufführungen scheinen aber immer noch andere Dinge zu entscheiden. Man muss also fragen: Warum werden so viele Werke, wie auch von ihr, nach wie vor ignoriert? Sind es am Ende nur Kontakte, die den Unterschied machen? Oder das Geld, das man investiert? Oder etwa nur Glück? Oder der Ruf, von dem vor allem bestimmte Männer zu Unrecht profitieren?
Egal, wie sehr gefühlt jeder zweite Intendant in halbherzigen Lippenbekenntnissen betont, was man alles für Inklusion, Teilhabe, Geschlechter- und Chancengleichheit tun würde: In Realität sind Werke wie von Mel Bonis bis heute einsame Ausnahmen im Konzertbetrieb. Nur seltenen Sonderaufführungen, wie beispielsweise am Internationalen Frauentag 2015 vom BBC National Orchestra of Wales in Cardiff, ist es zu verdanken, dass Komponisten wie sie nicht komplett vergessen sind.
Deshalb möchte ich diesen Beitrag mit einer Bitte in Richtung Dirigenten und Konzerthausbetreiber abschließen: Liebe Verantwortliche, lassen Sie Ihren Worten Taten folgen! Holen Sie die Musik von großartigen aber vergessenen oder ignorierten Talenten, wie auch Mel Bonis, regelmäßig in Ihre Häuser. Und zwar unabhängig davon, ob sie als Beispiel für Inklusion, Gleichberechtigung oder „hochwertige Musik von Frauen“ herhalten kann. Spielen Sie sie um ihrer selbst Willen! Denn in ihr steckt viel mehr, als beispielsweise ein Beitrag zum Feminismus.
Daniel Janz, 2. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 20: Amy Beach – Sinfonie in e-Moll – „Gaelische Sinfonie“