Quelle: https://www.zeit.de/online/2009/17/gender-musikgeschichte/seite-2)
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Bevor es mit dieser Kolumne in die Sommerpause geht, muss auch der kleine Ausflug in die Welt der zu selten gespielten weiblichen Komponisten zu einem vorläufigen Ende finden. Bereichert durch Beiträge von teils brandaktuellen, teils schillernden, teils ungerechtfertigt diskriminierten und teils vergessenen Ikonen soll den Abschluss ein Werk machen, das eigentlich in die Liste der ewigen Klassiker gehört. Denn zur Rubrik der bereits vor 2 Wochen behandelten solistischen Konzerte zählt nicht nur das Solokonzert. Noch seltener anzutreffen sind Doppel- oder Tripelkonzerte – beides Formate, die nicht immer gelungene Musik hervorbrachten. Folgen Sie mir deshalb auf den Spuren eines Werks, das dringend in den Konzertbetrieb gehört: Das Doppelkonzert von Dame Ethel Smyth.
Ziel dieser Kolumne ist, möglichst viele verschiedene vergessene Werke von unterschiedlichen Komponisten vorzustellen. Doppelungen möchte ich als Autor daher eigentlich nur in besonderen Fällen nachgeben. Und die Musik von Dame Ethel Smyth halte ich für so einen besonderen Fall. Diese Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts tätige Schriftstellerin und Komponistin ist wohl eines der größten musikalischen Talente, die zu Unrecht vergessen wurden. Bereits ihr erstes symphonisches Werk – die Serenade in D von 1890 – ist ein Statement von Können und Klasse. Und dass sie ihr Leben lang ihre Fähigkeiten weiterentwickelt hat, beweisen ihre Spätwerke, wie eben auch dieses Doppelkonzert.
Die Entstehung dieses Werks fiel in eine für Dame Ethel Smyth prägende Zeit. In den 1920er Jahren waren die Schrecken des ersten Weltkriegs gerade überwunden, Kunst und Kultur orientierten sich in Europa neu und Frauenrechte waren – zumindest in Großbritannien – auf dem Vormarsch. Auch hier galt die bekannte Suffragette und Komponistin des „March of the Women“ als Vorreiterin, leitete häufig Frauenrechtsveranstaltungen und engagierte sich politisch. Und das alles, obwohl sich bei ihr über die Jahre eine schwere Taubheit einstellte.
Bei all diesem Engagement und ihrer gesundheitlichen Belastung ist es umso beeindruckender, dass sie in dieser Zeit immer noch musikalisch tätig war. Bis ins Jahr 1930 komponierte sie aktiv, bevor sie sich ganz auf ihre Autorentätigkeit beschränkte. Ihr letztes Werk – die Sinfoniekantate „The Prison“ – ist voller persönlicher Bezüge und lässt sich sogar autobiografisch deuten: Auch Smyth hatte für ihren Aktionismus zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts in den 1910er Jahren 2 Monate im Gefängnis verbracht.
Man könnte diese Spätphase ihrer Komponistenkarriere also auch als Rückbesinnung auf ihr Leben verstehen. Und in diese Zeit der persönlichen Rückbesinnung fällt auch Smyths Doppelkonzert für Violine und Horn, mit dem sie ein knapp halbstündiges Ausnahmewerk ablieferte. Und nebenbei offenbart es auch, dass sie nicht nur im Klangraum der romantischen Musiksprache verharrte. Moderne Ansätze finden sich auch hier – und das wohlgemerkt in einer Zeit, in der die Taubheit sie bereits schwer plagte.
Dennoch scheint die Musik selbst aus der Zeit gefallen zu sein. Denn die Klänge, die Dame Ethel Smyth hier für dieses Werk wählte, erscheinen im Kontext des Jahres 1928 zwar spätromantisch bis impressionistisch. Dennoch hätten Zeitgenossen sie sicher als altmodisch empfunden. Zum Vergleich: In demselben Jahr stellte Arnold Schönberg seine (meiner Meinung nach grausige) Orchestervariation und mit ihr die Zwölftonkompositionstechnik im symphonischen Bereich vor.
Aber die Musik von Dame Ethel Smyth liegt solchen avantgardistischen Experimenten fern. Stattdessen bedient sie sich voller Akkorde, klar definierter Themen und einem formal intuitiven Konzept, das die Komposition durchdringt. Damit kann ihre Musik (im Gegensatz zu Schönberg und Co.) bis heute ergreifen.
Das gelingt bereits im vollen Einleitungssatz „Allegro moderato“, in dem sie auf das gesamte Orchester zurückgreift. Aus diesem entwickelt sich auch das Hauptthema, dessen aufstrebende Figuration stets in neue Klangwelten führt. Auch der Spagat zwischen Violine als virtuosestes aller Instrumente und Horn als Orchesterherzstück gelingt herausragend gut. Sie entspringen stets organisch dem Orchestertreiben, ohne es zu vergessen. Smyth stellt sie auch in solch ein Spannungsverhältnis zueinander, dass ein richtiger Dialog entsteht. Mal rezitieren sie sich gegenseitig mit dem Hauptthema, mal folgen sie einander in ihre melodischen Flüsse hinein gegen das Orchester, mal spielen sie keck gegeneinander an, wie ein lange verheiratetes Ehepaar.
Zu beachten sind hier besonders die grandiosen Klangeindrücke. Bereits nach 6 Minuten Musik hat Smyths Musik so viele Bereiche gestreift, als wäre es eine musikalische Weltenreise. Die Anreicherung mit bewusst gewählten Details und feinen Akzenten des Schlagzeugs machen dies stets interessant – nie entsteht der Eindruck platter Wiederholung. Und wenn der erste Satz nach knapp 10 Minuten mit der Verklärung des Hauptthemas endet, ist das reinste Gänsehaut. Schönberg und Co. würden die Nase rümpfen vor so viel Klangpracht und Schwerpunkt auf einem Thema. Mich begeistert diese Form der Kompositionskunst aber restlos.
Dass der zweite Satz „Elegy“ nach so viel Pracht mit einem einsamen Hornruf beginnt, erscheint im Kontrast dazu regelrecht überraschend. Der Einsatz der Solovioline, auf den dann erst die anderen Streicher folgen, wirkt daraufhin wie die Eröffnung eines Zwiegesprächs zweier Liebender. In diesem vertrauten Spiel der Harmonien eröffnet sich eine ganz intime Schönheit, die zwischen trauter Zweisamkeit und schmachtender Sehnsucht schwankt. Dazu erscheint das Hauptthema dieses Satzes wie ein Spiegelbild zum Hauptthema des ersten Satzes – eine Verwandtschaft wird gerade auch in der auf den Auftakt folgenden Triole des Themas deutlich.
Der Einstieg in das Finale erscheint vor allem keck. Zunächst prescht die Solovioline los, gefolgt von einem lebhaft trabenden Horngejauchze, das immer wieder vom Orchester unterbrochen wird. Smyth verschleiert hier ihr Hauptthema durch stetige Rhythmuswechsel. Das ist schon fast ein Triumphfest der Musik, so wie sie dieses Schauspiel der Klänge auch noch durch Akzente des Schlagwerks würzt. Etwas abstrakt mag dieses Finale durch die schnellen Stimmungswechsel zwar erscheinen. Dennoch lassen sich allerhand Schönheit und Spannung in diesem Ideenreichtum entdecken. Besonders auch das Duett zwischen Solohorn und –violine zur Mitte des Satzes steckt noch einmal voller Intimität und Lieblichkeit und verlangt dem Horn in der Tiefe aber auch der Violine in der Höhe alles ab.
Auch das Ende selbst hat alles, was es für großartige Musik braucht. Ein Schlag des Beckens, um die traute Zweisamkeit zu zerreißen, schmetternde Trompeteneinwürfe zu flirrenden Flötentrillern, filigran tanzende Episoden von Tamburin, Harfe und Xylophon und der obligatorische Schlag auf die Pauke, um alles gekonnt abzurunden. Es kann kein Zweifel daran bestehen: Dieses Werk wäre eine willkommene Abwechslung in jedem Konzertsaal.
Für mich steht fest: Die Werke von Dame Ethel Smyth beweisen, dass sie zu den ganz großen Komponisten gehört. Bereits im letzten Beitrag hatte ich mich darüber ausgelassen, wie ausgelutscht und langweilig die Gattung der Solokonzerte heute ist. Und genauso, wie das Klavierkonzert von Luise Adolpha Le Beau, halte ich auch dieses Doppelkonzert für einen Weg, dieser Musikgattung wieder etwas Leben einzuhauchen. Für mich ist es jedenfalls ein Höhepunkt, der viel häufiger in unsere Konzertsäle gehört.
Mit diesem Höhepunkt verabschiede ich mich in die Sommerpause. Aber ich kann alle, die Freude am Lesen meiner Kolumne haben, beruhigen… im September geht es weiter mit neuen, vergessenen oder unterschätzten Juwelen der Orchestertradition. Ich selbst freue mich bereits darauf, mich ausführlich weiteren der Werke widmen zu können, die ich inzwischen gefunden habe. Gerne höre ich mir auch Ihre Vorschläge an. Wenn Sie also der Meinung sind, weitere Stücke zu kennen, die unbedingt häufiger gespielt werden sollten, dann schreiben Sie es unbedingt in die Kommentare! Denn jede Entdeckungsreise ist nur so gut, wie das, womit man sie ausschmückt.
In dem Sinne wünsche ich allen einen schönen Sommer und freue mich auf den weiteren Austausch!
Daniel Janz, 16. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ ab November wieder!