José Pablo Moncayo © wikipedia.org
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Das europäische Bild lateinamerikanischer Musik hat immer etwas Klischeehaftes. Wenn wir uns nicht Mariachi-Bands oder Panflötenzischen vorstellen, dann überwiegt vor allem die Idee von wilden Tanzrhythmen und von durch Trompeten begleiteten Gitarrenlauten. Ein Bild, das so einfältig wie uninformiert ist. Denn so, wie Heitor Villa-Lobos schon als Beispiel für hochwertige Orchestermusik aus Südamerika in dieser Kolumne vorkam, so gibt es auch faszinierende Kompositionen für Orchester von mittelamerikanischen Komponisten. Einer dieser Komponisten war José Pablo Moncayo aus Mexiko.
Der 1912 geborene Moncayo war dabei nicht der erste wichtige Komponist mexikanischer Herkunft. Ihm voraus gingen bereits Pioniere, wie Silvestre Revueltas und Carlos Chávez, die mit ihrer Musik eine ganze Generation prägten und auch für Moncayo wichtige Unterstützer werden sollten. Dadurch konnte Moncayo auf einer in Mexiko etablierten „nationalen Musiktradition“ aufbauen. Eine Ergänzung fand er außerdem bei seinen internationalen Studien unter Aaron Copland, der mit Carlos Chávez innig befreundet war und dadurch auch Moncayo kennenlernte.
Nicht nur deshalb weicht seine Klangsprache von anderen Komponisten seiner Zeit stark ab. Während sich ab den 1920er Jahren avantgardistische Strömungen in Europa entwickelten, die dann in den 1950er neu auflebten, blieb Moncayo bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1958 einer tonalen Musiksprache treu.
Und diese traditionelle Musiksprache kombiniert mit mexikanischem Temperament und Moncayos Talent als Schlagzeuger machte sich bezahlt. Gerade auch aus seinen späteren Kompositionsjahren gelangten einige Werke zu hohem Bekanntheitsgrad. Da wären zu einem seine Orchesterfantasie „Huapango“ (1941), seine Sinfonie (1944), seine Opern „La Mulata de Córdoba“ (1948) und „Tierra de Temporal“ (1949) sowie sein Ballet „Tierra“ (1956) zu nennen. Und eben seine Sinfonietta aus dem Jahr 1945; ein kurzes, temperamentvolles Werk voller Charme, heißer Rhythmen und verspielter Melodiösität.
Dabei ist dieses Stück beispielhaft für den Höhepunkt mexikanisch/musikalischem Nationalismus im mittleren 20. Jahrhundert. Gleichzeitig fiel diese Komposition auch in eine führ Moncayo sehr produktive Zeit, in der er als Assistenzdirigent beim mexikanischen Sinfonieorchester eine Stelle antrat, auf der er später noch weitere Engagements aufbauen konnte. Ja, es scheint, als wäre diese Komposition Ausdruck eines ganzen, von Wonne geprägten Lebensgefühls – und das in einer Zeit, wo in anderen Ländern der Welt gerade der zweite Weltkrieg sein Ende fand.
Dieses gerade einmal 10 Minuten lange Stück geht dabei bereits von Anfang an in die Vollen. Heiße Rhythmen von Klarinetten und Hörnern gegen die robusten Figuren der tiefen Streicher, Tuba und Pauke geben hier das Geschehen vor, bevor die Violinen mit ihrer geradezu singenden Hauptmelodie dazu einsetzen können. Was daraus entsteht ist ein kontrastreiches Zusammenspiel zweier musikalischer Elemente, die mal miteinander, mal gegeneinander zu wirken scheinen und gerade durch dieses Farbenspiel Spannung erzeugen.
Spannend ist auch, wie aus diesem kontrastreichen Spiel der Klänge immer wieder einzelne Instrumente solistisch herausbrechen. Die Ebene einer ganz individuellen Prägung wird dadurch intuitiv stark gemacht. Seien es kleine Einsätze von Oboe und Trompete, zärtlich in die Höhe steigende Violinen und ein einsames Klarinettensolo, das wie der Blick hinauf in den Abendhimmel von Größerem träumt – das alles sind Eindrücke, die sich nur in den ersten 2 Minuten Musik finden.
Und doch findet dieses Stück immer zu ihrem tänzerischen, teilweise schon marschartigen Duktus zurück. Selbst an Stellen, die bewusst sensibel und sparsam instrumentiert sind, wartet doch immer wieder der volle, von robusten Rhythmen unterlegte Klang als Antwort. Als wären wir hier mit einem Fest konfrontiert, das seine Gäste immer wieder auf den Kern der Feierlichkeit zurückführt, ohne ihnen Momente der Nachdenklichkeit und Demut zu verwehren.
Erst gegen Mitte der Komposition emanzipiert sich das nachdenkliche Moment dann doch, als Celli, Bratschen und Hörner gemeinsam in einer einstimmigen, fast wehmütigen Melodie gegen die Einwürfe von Geigen und hohen Holzbläsern herausstechen. Eine Stimmung, die sich dann auch auf die Geigen überträgt, die das melancholisch-sehnsüchtige Element weitertragen.
Erst mit dem fast schon erotisch anmutenden Tanz der Flöte bricht dieses auf und mündet erneut in einem von Rhythmik und Feststimmung getragenen Treiben im Orchester. Dieses steigert sich immer weiter auf, steuert auf ein regelrechtes musikalisches Feuerwerk zu, bevor auf dem Höhepunkt plötzlich alles abbricht und erneut der Rhythmus von Beginn der Sinfonietta einsetzt. Ein ganz und gar rundes Erlebnis, das am Ende auch nichts anderes kennt, als ein atemberaubendes Finale voller Staunen und Pracht.
https://www.youtube.com/watch?v=EhdXd9ClvWY&list=PLdd_Lwfj4Fp79AGSjKTTlaPn8rL6INtpj&index=48
Mit knackigen, bewegenden Stücken wie diesem wäre José Pablo Moncayo in unserer heutigen Musikwelt nicht nur eine wahre Offenbarungserfahrung. Seine Musik illustriert auch, dass nicht jedes Orchesterwerk gleich eine oder mehrere Stunden lang sein muss, um begeistern zu können. Dazu versprüht es eine Art mittelamerikanischen Charme, der mindestens in deutschen Konzertsälen (ich mutmaße aber europaweit) selten zu hören ist.
Dabei ist das Musik, die ohne weiteres auch neues Publikum anlocken und sicher auch junge Konzertgänger begeistern könnte. Warum José Pablo Moncayo also nicht schon längst häufiger auf unseren Spielplänen erscheint, ist mir ein ungelöstes Rätsel. Wie schön wäre es, wenn man ihm und anderen einmal eine Chance über ihr Nischendasein hinaus geben würde? Lassen wir uns doch mal darauf ein, uns von Klischees und alten Konventionen zu befreien. Ich sehe darin große Chancen und viel Potenzial.
Daniel Janz, 3. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!