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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz inzwischen 51 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die Sinfonie ist ein Klassiker der Orchestermusik. Seit Jahrhunderten begegnet einem dieses Format in variabler Gestalt quer durch die Konzertsäle der Welt und gilt inzwischen als Königsklasse der Musikkunst. Ähnlich geschichtsträchtig wie diese Kompositionsform ist ansonsten das Concerto, das uns heute besonders in Gestalt des Solokonzerts begegnet. Was aber, wenn diese Genregrenzen zerfließen? Dann erhalten wir Ausnahmemusik, wie die „Symphonie espagnole“ von Édouard Lalo.
Lalo ist ein heute wieder nahezu vergessener Komponist, der als französischer Offizierssohn lange Zeit seines Lebens unentdeckt blieb. Erst, nachdem er sich gegen die von seinen Eltern vorgesehene Militärlaufbahn durchgesetzt hatte und 1865 zum zweiten Mal heiratete, gelang ihm im Alter von 42 Jahren auch der Einstieg in die französische Kunstgesellschaft. Damit kam auch erste Anerkennung als Komponist. Einige seiner Kompositionen, wie sein Cellokonzert von 1877, waren bahnbrechend. Den größten Ruhm erfuhr er jedoch posthum, bevor er wieder in Vergessenheit geriet.
Damit ist Lalo Beispiel für jene Art Talent, die zu unrecht lange Zeit unentdeckt bleibt, nur um dann erneut vergessen zu werden. In seinem Fall ist das nicht nur undankbar. Es zeigt auch, wie sehr Kunst und Kultur bis heute einer kleinen Bildungselite vorbehalten werden. Denn das, was der selbsternannte Autodidakt hinterließ, stellt selbst einige so genannte „große Meister“ in den Schatten.
Kaum ein Werk illustriert dies besser, als seine „Symphonie espagnole“, die bereits in sich einen Bruch darstellt. Mit einem Titel, der das Wort „Symphonie“ beinhaltet, sind für gewöhnlich auch feste Formvorstellungen verbunden. Zu erwarten sind die Sonatenhauptsatzform, der Einsatz eines vollen Orchesters, Thema, Gegenthema und die Verknüpfung verschiedener Kompositionstechniken, die zumeist in mehreren Sätzen einander gegenübergestellt werden.
Lalo setzt diese Forderungen auch kompositorisch um. Gleichzeitig aber bricht er mit dieser fast sklavisch vorgegebenen Tradition. Denn anstelle einer Symphonie hat er mit diesem Werk ein Violinkonzert in Symphoniegestalt komponiert; ein Experiment, das in dieser Form wohl seinesgleichen sucht. Für seine Zeit bahnbrechend ist bereits die Aufteilung in 5 Sätze, was sowohl für Symphonien (meistens 4 Sätze), als auch Solokonzerte (normalerweise 3 Sätze) untypisch ist.
Auch sticht dieses Werk klanglich heraus: Im Gegensatz zu den meisten Solokonzerten reduziert es das Orchester nicht nur zu schnödem Beiwerk, während sich ein Solist auf der Bühne austobt. Sondern die Gestaltung der Themen, die anspruchsvolle Spieltechnik und die Aufteilung der Dramatik ist hier ebenbürtig, man könnte fast sagen, symphonisch. Sei es im eruptiven ersten Satz oder dem feierlich tänzerischen und umso überraschender endenden Scherzando im zweiten.
Überraschen kann auch das robuste und ganz und gar nicht intim klingende Intermezzo im dritten Satz. Solche mit dem Titel brechenden Töne kennt man aus den 1910er Jahren. Aber 50 Jahre früher ist es selten, dass sich ein Solist solch Flamenco-artigen Rhythmen aus dem Orchester entgegenwirft und dadurch ein Spektakel voller Leidenschaft entfacht. Man merkt: Aufbau und Satzgestaltung ähneln eher einer Symphonie, als einem Solokonzert. In solchen Stellen wird das Werk auch seinem spanischen Bezug im Namen gerecht! Denn selbst, wenn die Musik einmal vermeintliche Ruhe entwickelt, brodelt ein fast unbegrenztes Feuer in den Tönen.
Dieses Feuer lodert selbst in dem schwer beginnenden vierten Satz, den ein feierlicher Choral voller Inbrunst und Tiefe eröffnet, in die der Solist einsteigt. Hier merkt man, dass dieses Werk nicht nur Routine sondern auch Einfühlungsvermögen verlangt, um den Wechsel von tiefgreifender Trauer hin zum erlösenden Freudenspiel im letzten Satz zu gestalten. Mit Klängen von Harfe und Trommel angereichert, gelingt diesem Finale bereits der Einstieg auf brillante Weise. Auch wie sich dieser Tanz auf der Violine von Triangelklängen begleitet bis in sein glänzendes Ende steigert, ist bemerkenswert. Dieser Satz hat mit seinen Wechseln zwischen Orchester- und Einzelspiel des Solisten auch am meisten von einem Solokonzert:
Mit Lalo und der „Symphonie espagnole“ ist es damit wie mit einem Künstler, der sich nirgendwo zuordnen lässt. Sein Werk vereint auf der einen Seite die Stärken von zwei unterschiedlichen Kompositionsformen und sollte schon alleine deshalb eigentlich als Standardwerk auf allen Spielplänen stehen. Gleichzeitig aber ist sein Name so unterrepräsentiert, dass man intuitiv mit ihm eine solche Klasse gar nicht verbinden würde. Mit ihm liegt eines jener Juwelen verborgen, das unser Kulturleben maßgeblich bereichern könnte. Wie wäre es also, dieses Juwel ab und an einmal zum Vorschein zu bringen? Das Erlebnis wäre mehr als lohnenswert.
Daniel Janz, 19. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.