Daniil Trifonov, Foto: (c) Astrid Ackermann
Zum ersten Mal überhaupt gastiert das Philadelphia Orchestra in Baden-Baden. Unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin gibt es von Freitag bis Sonntag gleich drei Konzerte ausschließlich mit Musik von Sergei Rachmaninow. In zweien sitzt Daniil Trifonov am Flügel. Auch der zweite Abend beeindruckt zutiefst und birgt Entdeckungen. Fantastisches Blech, beeindruckendes Schlagwerk, delikat spielende Holzbläser und eine hohe Virtuosität wie auch eine Überfülle an Herzblut und Wärme in den Streichern zeichnen dieses Spitzenorchester aus.
Baden-Baden, Festspielhaus, 4. November 2023
Sergej Rachmaninow (1873-1943) – Vocalise op. 34/14; Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43; Sinfonie Nr. 1 d-Moll op. 13
Daniil Trifonov, Klavier
The Philadelphia Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
The Philadelphia Sound erklang mit eindrucksvoller Verve und Leidenschaft auch am zweiten Baden-Badener Abend. Eröffnet wurde dieser zunächst mit der vielleicht berühmtesten Melodie des Komponisten, der kurzen Vocalise in der Fassung für Orchester, die übrigens der Komponist selbst mit dem Philadelphia Orchestra 1929 eingespielt hatte.
Bemerkenswert war hier, wie ein so groß besetztes Orchester mit acht Kontrabässen diese zarte Musik so sanft in den Saal streicheln konnte. Insbesondere die Streicher spielten wie aus einem Guss. Der Mittelteil wogte aufs Schönste, bevor die Musik herrlich verebbte. Und den Samsung-Klingelton, der die Stille entweihte, kann man eigentlich schon in die Partitur schreiben: Es passiert doch immer wieder.
Daniil Trifonov war, wie auch am Vorabend, Solist des Abends, diesmal mit der hinreißend gespielten Paganini-Rhapsodie. Ich gestehe, dass es mir zu Beginn und am Ende ein wenig zu rasant war. Doch das ist eine subjektive Meinung, die von jemandem geäußert wird, der mit der Aufnahme von Cécile Ousset und Simon Rattle aufwuchs.
Beeindruckend war einmal mehr Trifonovs stupende Technik. In der ersten Dies-irae-Variation meißelte er jeden Ton, und in der Variation danach entstanden durch das col-legno-Spiel der Streicher erschütternd fahle, kahle Klänge. Trifonov gestaltet aufs Schönste seinen Part dort, wo er sich Zeit lässt, und wo die Musik es zulässt, und es erklingen feine Soli im Orchester, etwa im Horn, im Holz und in den ersten beiden Cellopulten.
Das Spannende an diesem Stück ist, dass es als Rhapsodie angelegt ist und nicht als stur durchgehaltene Aneinanderreihung von Variationen in ein- und derselben Tonart. Rachmaninow wusste offenbar ganz genau, dass das schlichte Paganini-Thema dafür nicht genug hergibt. Anders als Bach mit seiner eigenen herrlichen Aria, auf der die Goldberg-Variationen aufgebaut sind: alle stehen in G-Dur, bis auf drei in g-Moll.
Die Paganini-Rhapsodie fegt förmlich durch den Quintenzirkel, mal hören wir d-Moll und die Paralleltonart F-Dur, und mal sind wir gar – glaube ich – in b-Moll, der Tonart des ersten Klavierkonzerts von Tschaikowsky. Wir erkennen stellenweise nicht einmal immer die Paganini-Caprice wieder.
Schon gar nicht in der Variation schlechthin, die mich als Jugendlicher so angerührt hat. Es ist der kitschigste, der herrlichste Rachmaninow, den man sich vorstellen kann, und wie ihn seine Spötter und Verächter immer herbeizitieren, wenn sie lästern wollen, was das für ein Überwältigungsporno sei. Na und? Lasst Euch überwältigen!
Yannick und das Philadelphia Orchestra taten genau das, was diese schwelgerische C-Dur-Variation braucht: Sie fanden stets die Balance zwischen drängender Unruhe einerseits und absolut in sich gekehrter Gelassenheit, Lässigkeit, andererseits. Nicht sofort zum Höhepunkt kommen, Leidenschaft hinauszögern: Diese geheimnisvolle Mischung machte die Darbietung der Variation zum absoluten Gänsehautmoment. Dass man gar keinen Paganini mehr hörte, machte das Ganze noch genussvoller.
Danach wird es jazzig, und wir dürfen tanzen (in Gedanken!), derweil es auf die Zielgerade geht. Trifonov, so scheint’s, konnte gar nicht anders, als loszupreschen, vom Orchester beeindruckend virtuos begleitet und es nicht etwa abhängend. Dennoch bleibt mir ein Zweifel, ob solch ein Affenzahn hier so erstrebenswert ist. Zu viele Details gehen verloren.
Die beiden Zugaben – zunächst die Gavotte aus der Partita E-Dur BWV 1006, arrangiert übrigens von Rachmaninow, und danach überredete ihn Yannick zu einer zweiten Zugabe, die jazzig ausfiel (Art Tatum? Gershwin? Oder gar Kapustin?) – spielte Trifonov mit so viel Charme, dass mir einige Programmwünsche für ein Rezital durch den Kopf schossen. Zwei Klavierabende mit Trifonov. Am ersten: Bach-Arrangements (Myra Hess etc.) in der ersten Hälfte, gefolgt von Rachmaninows b-Moll-Sonate op. 36 in der zweiten. Am zweiten Abend: Musik von Kapustin, Gershwin & Co.
Das Fiasko der Uraufführung von Rachmaninows erster Sinfonie, zu einem nicht unerheblichen Teil der Tatsache geschuldet, dass Alexander Glasunow angeblich sternhagelvoll dirigierte, stürzte den Komponisten in eine tiefe Depression. Es ist mit Abstand die sperrigste der drei Sinfonien, nicht unbedingt hörerfreundlich: Nicht nur der Dirigent, auch das Publikum ist gefordert.
Gleich zu Beginn verzückte ein Klarinettensolo von Ricardo Morales. Das Werk steht in d-Moll, der Tonart von Mozarts Requiem und seines düstersten Klavierkonzerts. Wir springen aber auch hier durch die Tonarten, das Stück scheint fragmentiert, als ob da ein junger Mensch von Mitte zwanzig auf der Suche nach seiner eigenen Stimme sei und experimentiere. Ich bin gedanklich beim frühen Tschaikowsky und dessen erster Sinfonie, aber dann wieder, beim Einsatz des Gongs, bei Scriabins Poème de l’Extase, und ganz zum Schluss sogar beim Ende der fünften Sinfonie von Schostakowitsch, ebenfalls in d-Moll.
Und dessen erste Sinfonie wiederum, also jene des DSCH, war ein Geniestreich. Er hielt sich zunächst kurz. Rachmaninow hingegen hat ebenfalls unglaublich viele Ideen, die aber in diesem Werk, seinem op. 13, ein wenig aneinandergereiht scheinen. Trotzdem ist das Werk, da selten gespielt, eine Entdeckung.
Und die Darbietung des Philadelphia Orchestra war eine Wucht: diese ausschwingenden Bässe am Ende des Kopfsatzes; die innere Unruhe des Scherzos; der langsame Satz, der nicht explizit schön, sondern auch beklemmend ist, bedrohlich – bis auf die B-Dur-Stelle im Dreiertakt, die von erlesenem Liebreiz ist; und das Finale, das zunächst purer Verdi ist, es könnte irgendein Vorspiel zu irgendeinem dritten Akt sein, bevor Rachmaninow dann spätestens im Marsch endgültig seine Stimme findet, die seine zweite Sinfonie und so viele andere Werke mit so hohem Wiedererkennungswert versieht. Plötzlich ist die Stimme da. Das Tamtam erinnert gar an den allerletzten Ton seines allerletzten Opus – das Ausschwingen des Gongs in den Sinfonischen Tänzen op. 45.
Schon im op. 13 gibt es Anklänge an das von Rachmaninow so häufig verwendete mittelalterliche Dies-irae-Motiv, das man u.a. auch in der Rhapsodie viel hört. In einer Darbietung wie in Baden-Baden kann man durchaus Zugang finden zu dieser ersten Sinfonie. Fantastisches Blech, beeindruckendes Schlagwerk, delikat spielende Holzbläser und eine hohe Virtuosität wie auch eine Überfülle an Herzblut und Wärme in den Streichern zeichnen dieses Spitzenorchester aus.
Dr. Brian Cooper, 5. November 2023, für klassik-begeistert.de
und klassik-begeistert.at
The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Elbphilharmonie Hamburg