Davos Festival – fantastische Lügenmärchen

Davos Festival, young artists in concert

Bildquelle: DAVOS FESTIVAL / © Yannick AndreaDavos

Festival
young artists in concert

37. DAVOS FESTIVAL, 6.–20. AUGUST 2022


Eindrücke vom Musikfestival in Davos

von Kirsten Liese

„Faketual Reality“ steht in dicken Lettern  neben dem Eingang zu einem Raum mit einer ungewöhnlichen Installation im Davoser Kongresszentrum. Dort erwartet die Besucher ein spannendes Experiment, das offenlegt, wie einfach die Manipulation über Medien funktioniert, wie leicht sich gefakte Videos produzieren lassen, auf die man leicht hereinfallen könnte, wenn man nicht selbst das Versuchskaninchen gewesen wäre.

Kurzum: Der Selbstversuch lädt mich ein in eine Kabine. Darin fordert mich ein Automat auf,  ein paar Angaben zu meiner Person, ein Foto von mir  und eine Aufnahme von meiner Stimme zu machen. Dazu brauche ich kein eigenes Equipment, das macht letztlich alles der Computer. Danach verlasse ich die Kabine und schaue auf einen Splitscreen, auf dem  drei Videos von mir nebeneinander mit meinem authentischen Bild und meiner Stimme erscheinen, aber mit gänzlich anderen Aussagen, als denen, die ich in der Kabine für die Sprechprobe aufnehmen sollte.

„Durch die Erfahrung, das alternative Ich zu sehen, bietet die Installation den Besuchern die Möglichkeit, die soziale und politische Dimension von Algorithmen des maschinellen Lernens und ihre Auswirkungen auf die Privatsphäre besser zu verstehen“, heißt es daneben in einer Erläuterung zu dieser von Paulina Zybinska entwickelten kreativen Installation, die trefflich zu einem Festival passt, das sich das „Flunkern“ zum Thema gemacht hat und sich an einem  Standort wichtiger politischer Kongresse und Gipfeltreffen befindet.

DAVOS FESTIVAL / © Yannick Andrea

Marco Amherd, der engagierte, kreative Leiter dieses Festivals, hat sich dazu viel einfallen lassen. Die Bezüge zu einem solch speziellen Thema liegen schließlich nicht so einfach auf der Hand, sieht man einmal von Opernfiguren ab, die in Davos keinen Platz finden, einem aber unweigerlich in den Sinn kommen, angefangen vom Papageno in der Zauberflöte, der wegen einer Hochstapelei ein Schloss vor seinem Mund tragen muss, über Contessa und Susanna im Figaro, die den Grafen geschickt foppen oder – um nochmal bei Mozart zu bleiben – Guglielmo und Ferrando in der Così, die behaupten, sie müssten in den Krieg ziehen, um sich hernach als Orientalen zu verkleiden oder die Leonore im Fidelio, die sich als Mann ausgibt, um ihren Gatten befreien zu können, bis hin zu so finsteren Gestalten wie den Hagen in der Götterdämmerung oder Jago im Otello, dessen boshafte Lüge sogar einen Mord nach sich zieht.

In der Instrumentalmusik fällt das Brainstorming schwieriger, umso erstaunter lässt sich entdecken, wo da so überall und im erweiterten Sinn „geflunkert“ wird.

In der alten Musik erweist sich zum Beispiel das Thema Urheberschaft als höchst interessant. In einem Konzert mit dem trefflichen britischen Noxwode Ensemble ertönten Werke, die nicht mit Sicherheit aus der Feder der Komponisten stammen, die ihnen zugeschrieben wurden. Aber im 17. und 18. Jahrhundert juckte das kaum jemanden. Da interessierte nur die Qualität der Stücke, viele wurden anonym überliefert.

Unter den unbekannten Werken, die die jungen Musiker exklusiv für das Festival einstudierten, stach eine  eigenwillige fünfstimmige Sonata für Streicher und Basso continuo heraus, die mit allerhand Dissonanzen und Querständen, die durch sie irrlichtern, außergewöhnlich modern anmutet. Und mit seinen Echoeffekten führt Giuseppe Valentini (1681-1753) oder wer sonst immer dieses Stück geschrieben haben mag, ganz schön aufs Glatteis, weil die Imitation nie exakt dem Originalmotiv entspricht.

An einem anderen Abend ließ sich spannend nacherleben, wie der geniale Johann Sebastian Bach seine ursprünglich weltliche Kantate  Schwingt freudig euch empor, die er anlässlich eines Geburtstags für eine Leipziger Juristenfamilie schrieb, zu einer geistlichen Kantate für Adventsgottesdienste umdichtete. Da durfte man staunen, wie perfekt sich Text und Musik in beiden Fassungen ergänzen, dies auch dank der  trefflichen Wiedergaben des Noxwode Ensembles und eines jungen Solistenchors aus Norwegen mit strahlend hellen schlanken Stimmen.

Mehr denn je prägten diesmal die spezifischen Orte, die dem Festival zur Verfügung stehen, sein besonderes Profil. Sinnbildlich für die mühsame Suche nach der Wahrheit in der Wissenschaft stand eine mehrstündige Wanderung  mit musikalischen Einlagen über teils steile Wege und Umwege durch die herrliche Davoser Berglandschaft, durch die, wer weniger gut zu Fuß war wie ich, auch mit dem Postauto zum Zielpunkt gelangen konnte.

© DAVOS FESTIVAL / Yannick Andrea

In einer winzigen Bergkirche im Dörfli Sertig, auf deren Altar nur zwei Musiker Platz finden, ertönten intime Duos, an denen das Wort Kammermusik in seiner ursprünglichen Bedeutung erfahrbar wurde. Allen voran am Beispiel von Ravels Sonate für Violine und Cello, die mit seinen mal lyrisch verträumten, mal spröderen Momenten  ungelogen zu den poetischsten Werken für diese kleine Besetzung zählt. Eine tolle Entdeckung bescherten daneben die exotischen Miniaturen, in denen der 1948 geborene Franzose Philippe Hersant alle farblichen und spieltechnischen Möglichkeiten für Fagott und Bratsche auslotet, virtuos dargeboten von Sào Soulez Larivière und Jeremy Bager.

Der zeitgenössischen Musik bietet das Festival in Davos ohnehin eine große Plattform. Dramaturgisch fügt sie sich meist sehr stimmig in die Konzerte zwischen barocken oder romantischen Werken ein, nicht immer ideal aber in den dafür ausgewählten Raum. In der abgelegenen Bergkirche wirkte schon ein Flötensolo von Kaija Saariaho mit seinen schrillen Höhen und geräuschvollen, überblasenen Tönen zu mächtig. Aus ähnlichen Gründen entfaltete auch Iannis Xenakis’ Chorstück  Nuits, ein  kaum auszuhaltender Schmerzensschrei im Dauerfortissimo, in der kleinen Kirche am Davoser Bahnhof zwischen norwegischen Volksliedern und einer spirituellen Meditation Oliver Messiaens keine ideale Wirkung.

In einer Soiree um Walliser Sagen und Mythen auf der beliebten Schatzalp erschien die Konzeption dagegen perfekt.  Allein das hoch gelegene Berghotel ist ein Mythos für sich, hält sich doch bis heute die Vorstellung, Thomas Mann habe an diesem Ort zu seinem Roman  Der Zauberberg  geschrieben, wiewohl er sich in Wirklichkeit von dem nicht weit entfernten Waldhotel inspirieren ließ.

Doch nicht der Nobelpreisträger Mann, sondern der internationale weniger bekannte Autor Wilhelm Ebener (1898-1980) kam hier literarisch zu Ehren, der sich in seinen Erzählungen auf spirituelle Pfade begibt, wenn er die Begegnungen mit  unheimlichen Geistern heraufbeschwört. Die ausgewählte romantische Kammermusik, darunter der  Danse macabre  von Saint-Saëns in einer ungewohnten Bearbeitung für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, wirkte dazu wie der atmosphärisch treffende Soundtrack in einem Film. Die schönste Entdeckung aber war das „fantastische Märchen“ von André Caplet, das mit seinem Harfenglitzer im Kopf Bilder zu der Geschichte von dem Jäger entstehen lässt, der nie wieder auf einen Gletscher steigen wollte, seit er dort eines ganzen Heers von Seelen ansichtig wurde.

Am Ende durfte ich noch eine höchst liebenswerte Aufführung des Märchens Rotkäppchen erleben, mit der das Festival auch ein Angebot für Familien mit kleinen Kindern machte. Die Sängerin Anna Gitschthaler hatte diese musikalisch illustrierte, modernisierte Fassung eigenständig konzipiert. Mit unnötigen  Anspielungen auf die sozialen Medien biedert sich diese Fassung, die vor allem mit seinem eigenwilligen Happy End vom Grimms’ Märchen stark abweicht, dem Zeitgeist an, aber die Zusammenstellung der Liedern, Duetten und Stücken von Brahms und Humperdinck – darunter Feinsliebchen willst du barfuß gehen  von Johannes Brahms, Ein Männlein steht im Walde sowie ein ungarischer Tanz von Johannes Brahms – passte sehr schön zu der Geschichte von der Begegnung des Mädchens mit dem bösen Wolf,  und gespielt und musiziert wurde vom ganzen Ensemble mit Herzblut. Und hier und da bezog die Protagonistin sogar das Publikum kreativ zum Mitsingen und Mitmachen mit ein.

Hatte nun der große Aufklärer Kant Recht, wenn er dem Menschen das Recht zur Unwahrheit absprach? Nach all den spannenden Fragen, die das Musikfestival in Davos aufwarf, mag man wohl doch eher Pragmatikern wie Aristoteles oder Nietzsche Recht geben, die kleinere Flunkereien entspannter beurteilten.

Kirsten Liese, 21. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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