Davos Festival 2022 – Thema Flunkern ist kein Alibi-Thema

Interview mit Marco Amherd, Intendant des Davos Festivals, von Kirsten Liese  klassik-begeistert.de

Foto: © DAVOS FESTIVAL / © Yannick Andrea

Interview mit Marco Amherd von Kirsten Liese

Marco Amherd (*1988)  ist seit Herbst 2019 Intendant des Davos Festivals. Er studierte Dirigieren, Orgel/Kirchenmusik und Wirtschaftswissenschaften in Zürich, Freiburg und Toulouse.

Nebst seiner Konzerttätigkeit als Organist dirigiert Marco mehrere professionelle und semi-professionelle Ensembles. Marco Amherd ist künstlerischer Leiter des Schweizer Vokalconsort.

Kirsten Liese befragte ihn am Rande des jüngsten Davos Festivals zu seinen ambitionierten Themen und dem ganz besonderen Profil dieses exklusiven Festivals. 

Kirsten Liese: Herr Amherd, zahlreiche Festivals verschreiben sich einem Motto, oftmals sind es Themen wie zum Beispiel Nacht oder Tod, die sehr weit gefasst sind, so dass man sehr viel darunter verstehen kann. Dagegen haben Sie beim Davos-Festival immer wieder spezifische Themen wie in diesem Sommer „Flunkern“,, die schon deutlich konkreter sind. Wie sind Sie denn darauf gekommen?

Marco Amherd: Für mich ist es immer total wichtig, dass das Thema nicht zu weitläufig ist, also kein Alibi-Thema, weil man sonst tatsächlich alles darunter verstecken könnte,  sondern eines, dass mich als Intendant herausfordert, mehr als 20 Konzerte mit Programmen zu bespielen, die dazu passen. Ich versuche dabei für gesellschaftliche und politische Geschehnisse offen zu sein und diese Strömungen aufzunehmen. Oftmals mache ich das beim Spazierengehen.

Das Verbreiten von Unwahrheiten ist im Zuge von Social Media sehr präsent. Mir war es wichtig, das Thema von unterschiedlichen Seiten spielerisch zu beleuchten und in dem Sinne nicht nur auf die Lüge an sich einzugehen, sondern auf das abgemilderte Flunkern. Die Lüge an sich hat etwas sehr Starkes und ist ein bisschen Schwarzweiß, aber unser Leben bewegt sich immer im Graubereich, es gibt Weiß, Dunkelweiß, Hellgrau, Dunkelschwarz, und ich fand, das Wort Flunkern bildet das ab.

Kirsten Liese: Schlagen wir den Bogen zur Musik. Flunkereien kommen in Geschichten vor, da fallen mir auf Anhieb erstmal Opernfiguren ein,  der Papageno  in der „Zauberflöte“ zum Beispiel, dem die drei Damen der nächtlichen Königin ein Schloss vor den Mund spannen, oder – um bei Mozart zu bleiben –  die Gräfin und Susanne im Figaro, die im zweiten Akt den Grafen foppen mit falschen Behauptungen… Nun ist Davos aber kein Opern-, sondern ein reines Konzertfestival, was es wesentlich schwieriger macht, einen Dreh zu dem Thema zu finden. Wie findet man in der absoluten Musik, von der der Jahrhundertdirigent Sergiu Celibidache sagte, sie sei wahr, Fakes?

Marco Amherd: Ist Musik wirklich immer wahr? Ich finde, das ist eine Frage, bei der man sich lange aufhalten kann. Musik an sich hat einen wahren Kern, und wenn ich denke, wie oft sie zur Manipulation von Massen genutzt wird,  muss man sich auch fragen, ob sie an sich immer noch diesen Wahrheitsgehalt hat.

Wo kann man die Lüge in der Instrumentalmusik finden? Auf verschiedenen Ebenen, wenn zum Beispiel ein Komponist Hörerwartungen enttäuscht. Oder wenn Komponisten ihre eigenen Stücke immer wieder verwerten und recyclen oder Zitate aus ihnen in andere Kontexte stellen. Wir haben eine Poulenc-Sonate auf der Schatzalp gehört. Aus dem Anfang vom Mozart- Requiem sind beispielsweise  große Teile von Händel. Nur hat Mozart dessen Musik nicht geklaut, sondern ihm damit Ehre erwiesen. Jemand hat wertvolles Material komponiert und ein anderer verwendet es weiter. Zahlreiche Komponisten haben auch Variationen und Fantasien über ein anderes Thema komponiert, das war nichts Verwerfliches.

DAVOS FESTIVAL / © Yannick Andrea

Kirsten Liese: Sogar  die berühmte Orgeltokkata in d-moll von Bach ist womöglich gar nicht von Bach.

Marco Amherd: Ganz lange war sie Bach zugeschrieben, dann war es  Johann Ludwig Krebs, aktuell tendiert man wieder zu der Annahme, sie sei doch aus Bachs Feder, aber das ist ganz unklar.

Kirsten Liese: Daran knüpft sich unweigerlich die Frage nach dem Wert von Kunst im Kontext mit einem berühmten Urheber. Ist das berühmte Porträt von dem „Mann mit dem Goldhelm“ auf einmal weniger Wert, weil es nicht von Rembrandt ist?

Marco Amherd: …und analog ist die Tokkata von Bach dann weniger gut? Ich denke nicht, wir müssen Werke nach der Qualität bewerten, ebenso Aufnahmen von Interpreten. Wir sollten nicht darauf achten, welcher Interpret etwas gespielt hat, sondern wie das Stück gespielt wurde.  Aber natürlich schwingt das immer mit, wenn man ein Konzert mit einem bekannten Künstler hört, hat man eine ganz andere Erwartungshaltung.

Kirsten Liese: Sie haben in Ihr Programm auch Sagen und Mythen aufgenommen. Wie kam es zu dieser Idee?

Marco Amherd: Für  mich ist es einfach spannender, mit einem Konzert eine Geschichte zu erzählen, so dass jeder Konzertabend wie eine kleine Komposition ist, bei dem Texte und Musik aufeinander eingehen und die Werke dann auch in einem anderen Kontext stehen.

Die Sagen sind mir sehr vertraut, ich habe noch als Kind  Abende erlebt, an denen man sich diese Geschichten erzählt hat. Und jedes Schweizer Dorf, auch wenn es nur 500 oder 66 Einwohner zählt, hat eigene Geschichten, die in seiner Umgebung spielen.

Diese Geschichten haben etwas sehr Herbes wie die Grimmschen Märchen. Aus einem Buch mit 120 solcher Sagen habe ich die drei, die am besten auf die Schatzalp passen, ausgewählt. Und mit der Musik mache ich das Gleiche, ich versuche extrem viel zu hören, zu forschen von Komponistinnen und Komponisten, die Werkverzeichnisse durchzugehen, Noten zu bestellen, durchzuspielen und zu schauen, was schlussendlich passt.

Kirsten Liese: Die Schatzalp ist ebenso ein besonderer Ort, der gern mit dem Sanatorium in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ assoziiert wird, dabei ließ sich der Schriftsteller in dem benachbarten Waldhotel dazu inspirieren.

Marco Amherd: Genau, und natürlich sieht es auf der Schatzalp aus, wie man es sich im Roman vorstellt, aber Mann war nicht auf der Schatzalp, und auch das ist wieder spannend: Man weiß das, aber trotzdem will man das sich selbst nicht zu stark zugestehen. Man will auf die Schatzalp gehen und das Bild vom Zauberberg für sich selbst behalten und so ein bisschen Selbstbetrug machen, der anderen auch nicht wehtut.

Kirsten Liese: Ihr Programm umfasst auch eine Wanderung auf einem Pfad der Wahrheit.

Marco Amherd: Wenn man die Wahrheit sucht, gibt es keine Abkürzung. Also man findet die Wahrheit nicht einfach so auf dem Silbertablett serviert, sondern muss über Falsifikationen arbeiten, eine Theorie aufstellen, dann versuchen, sie von allen Seiten zu kritisieren, bis zum Schluss etwas übrigbleibt, was momentan allen Widerständen Stand hält. Aber das muss man immer wieder tun, um den richtigen Weg zu finden. Und das ist in unserem wirklichen Leben auch so, dass es die geraden Wege nicht gibt und ab und zu einen Umweg machen muss, um die richtige Stelle zu finden, wo man hingehört. Auch auf der Wanderung haben wir versucht, Umwege einzubauen und musikalisch Stücke dabei zu haben, die das unterstreichen und auf das Reduzierte hinweisen.

Kirsten Liese: Das Davos Festival präsentiert junge Künstler. Und diese reisen nicht mit einem Programm an, das sie anderswo auch schon gespielt haben, sondern studieren die von Ihnen ausgewählten Werke eigens für das Festival ein.

Marco Amherd: Es ist mir sehr wichtig, dass wir hier Gelegenheit haben, Künstlerinnen und Künstler in Residenz zu haben, dass sie nicht nur für ein Konzert anreisen und dann weiterziehen, sondern dass fast alle zwei Wochen in Davos sind. Und für mich ist wichtig, dass die guten  Leute sich auch kennenlernen, dass sie hierher kommen, das Programm einstudieren und mit anderen guten Musikern in Kontakt kommen.

Herr Amherd, vielen Dank für das Gespräch!

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Ein Gedanke zu „Interview mit Marco Amherd, Intendant des Davos Festivals, von Kirsten Liese
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  1. Das Waldhaus in Sils ist wirklich für viele illustre Gäste bekannt. Richard Strauss jedoch weilte im Engadin vornehmlich im Hotel Saratz in Pontresina (das Vier-Sterne-Haus ist in Betrieb und unbedingt zu empfehlen). Im Saratz komponierte er u.a. einen Teil seiner „4 Letzten Lieder“ und zur Entspannung spielte er gern Skat mit Hotelgästen und dem Hotelbesitzer.

    Axel Schertel

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