Die Seebühne Bregenz bringt den „Freischütz“ als assoziationsreiche Horrorstory

Carl Maria von Weber, Der Freischütz – Romantische Oper  Seebühne Bregenz, 17. Juli 2024 (Première)

Fotoprobe „Der Freischütz“, Bregenzer Festspiele © Anja Koehler 

Eine Oper wie diese – seit über zwei Jahrhunderten ein Publikumsliebling, ein Dauerbrenner mit herrlich leichten Klängen zum Mitsummen und der gruselig-romantisch-sentimentalen Handlung eines Dreigroschenkrimis – ist und war seit jeher verführerisch für Opernhaus-Intendanten und beflissene Regisseure.

Doch der „Freischütz“, uraufgeführt 1821, hat bei aller Attraktivität seine trickreichen Fallstricke: Teufel, Magie, Aberglaube und bittersüße Herz-Schmerz-Romantik aus einer längst vergangenen Epoche wirken heutzutage ebenso antiquiert wie die düsteren Möbel aus jener Zeit, mit der sich kein Jugendlicher heute seine knapp bemessene Zweizimmerwohnung vollramschen möchte.

Carl Maria von Weber                                                                                                              Der Freischütz
Romantische Oper
Libretto von Friedrich Kind nach der Erzählung von Johann August Apel

Wired Aerial Theatre, Statisterie der Bregenzer Festspiele
Bregenzer Festspielchor/Prager Philharmonischer Chor

Musikalische Leitung: Enrique Mazzola
Wiener Symphoniker

Seebühne Bregenz, 17. Juli 2024 (Première)

von Dr. Charles E. Ritterband

Den „Freischütz“ heute, im 21. Jahrhundert, auf eine moderne Bühne zu bringen und dazu noch auf die gigantische Seebühne Bregenz, auf welcher ja in den vergangenen Jahren spektakulär gelungene Inszenierungen zu sehen waren, welche diese Dimensionen voll zur Geltung brachten – ein kühnes Wagnis. Die scheidende Intendantin Elisabeth Sobotka, die auf diese großartigen Erfolge auf der einzigartigen Seebühne und im Festspielhaus zurückzublicken vermag, ist dieses Risiko eingegangen: Erfolgreich!

Denn nicht nur die Premiere war bis auf den letzten Platz ausverkauft, auch die weiteren Vorstellungen: Der „Freischütz“ macht immer noch neugierig – wegen der herrlichen Musik, die nach wie vor jeder kennt, und wegen des teuflischen Geschehens, das keineswegs zufällig an Goethes nur 13 Jahre vor dem „Freischütz“ entstanden „Faust“ erinnert (der bisher ebenfalls sämtlichen Mordversuchen des Regietheaters getrotzt hat).

Während das Ganze irgendwann von poetischen, beeindruckenden Bildern in den Horrorkitsch kippt, bleibt die musikalische Qualität dieser Aufführung konstant: Großartiges Orchester unter der temperamentvollen, souveränen Stabführung von Enrique Mazzola, erstklassiges Ensemble hochkarätiger Sängerinnen und Sänger.

Das geliebte Böse: Publikumsliebling Mephisto

Der Mephisto heißt hier Samiel und Faust ist kein verknöcherter Gelehrter sondern ein erfolgloser Jäger (vom Regisseur zum Amtsschreiber umfunktioniert), beide lieben ein unschuldig-naives Mädchen, das dort Margarete und hier Agathe heißt: Die Menschen, vor allem in diesen Breitengraden, ergötzen sich am Teuflischen – von Goethes Mephisto (namentlich als seinerzeit vom legendären Gustaf Gründgens verkörpert) zu Hitlers Propagandaminister Goebbels – und diese Teufel haben immer die beste Sprüche.

Klavierhauptprobe „Der Freischütz“, Bregenzer Festspiele © anja koehler |

Ihr öliger Zynismus und ihre unverhohlene Brutalität stößt auf ungeteilten Beifall. Da haben Moral und gesunder Menschenverstand längst das Weite gesucht: Hauptsache die Reime reimen und die Pointe sitzt. So auch hier:

Dieser rotgewandete Teufel namens Samiel (virtuos: Moritz von Treuenfels) ist ein gewandter und sich stets windender Reimeschmied, ein wortreicher Blender, dessen Reime genau der Qualität, dem Humor und der geistigen Tiefe entsprechen, wie man sie vor nicht allzu langer Zeit an Hochzeiten und Firmenjubiläen anzutreffen pflegte, die aber beim Publikum nach wie vor hervorragend ankommen:

Fotoprobe „Der Freischütz“, Bregenzer Festspiele © anja koehler |

Dieser Samiel-Mephisto kam denn auch höchst erfolgreich bei der Festspiel-Eröffnung am Mittwoch im Festspielhaus zum Einsatz, als Conférencier gewissermaßen, als teufelsroter Roter Faden.

Und für diese Rolle wurde er vom Regisseur Philipp Stölzl eingesetzt – ein Meisterstreich, denn dieser Teufel verführt nicht nur den armen Max, sondern er führt das Publikum quicklebendig durch die verstaubte, widerspruchsreiche und ziemlich morbide Handlung. Dem Mephisto war der begeisterte Beifall des Publikums sicher; fast schien es, er erhielt mehr Applaus als die (durchwegs ausgezeichneten) Sängerinnen und Sänger.

Winterliches Elend nach dem Dreißigjährigen Krieg

Die Idee des Regisseurs Philipp Stölzl, der ja gleich auch noch für die Gestaltung der Bühne zeichnet, das Geschehen konsequent in die trostlos-kaputte, bettelarme und moralisch verrohte Winterwelt eines vom Dreißigjährigen Krieg gezeichneten Dorfes zu verlagern , erweist sich als perfekter szenischer Schachzug:

Fotoprobe „Der Freischütz“, Bregenzer Festspiele © anja koehler |

Wir betreten an einem im Vorarlberger Hochsommerabend, mitten in der Hitzewelle, die Seebühne und werden in eine bitterkalte hyperrealistisch gestaltete Winterlandschaft mit 28 künstlichen Bäumen und verwitterten alten Holzhäusern hereingerissen – die Dorfstraßen mit schmutzig weißen Schneehaufen bedeckt, das Dorf ist von den kalten Fluten eines Sees oder Flusses teilweise überflutet, das Wasser ist von zerspringenden Eisschollen (aus Plexiglas oder ähnlichem) bedeckt.

Und plötzlich beantwortet sich die Frage von selbst: Was tut der „Freischütz“, der doch eigentlich in eine typisch deutsche Wald-, Berg-, und Schluchtlandschaft gehören würde, auf einer Seebühne?

Genial gelöst – überall Wasser, aus dem Zombies und Geisterwesen (eine feuerspeiende Riesenschlange, ein Wasserballett, ein von einem Skelettpferd gezogener Karren, der geradewegs zur Hölle fahren will) auftauchen, in dem Kämpfe und Morde stattfinden.

Fotoprobe „Der Freischütz 2024, Christof Fischesser (Kaspar) © Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann

Zwischen Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel

Regisseurs Stölzl blieb uns wegen seiner grandiosen, stimmigen und doch höchst originellen „Rigoletto“-Clown Kopf-Zirkus-Inszenierung in bester Erinnerung. Sein „Freischütz“ hinterlässt jedoch eher zwiespältige Gefühle.

Unbestreitbar großartig in dieser Inszenierung sind die Tableaus, lebende Bilder, die unverkennbar an Hieronymus Bosch mit seinen skurril-furchterregenden Phantasiegestalten und an die so detailreichen flämischen Dorfszenen des Pieter Bruegel erinnern. Doch diese detailreiche Welt, in der es stets wuselt und wimmelt, ist nur sehr bedingt für die groß dimensionierte Seebühne geeignet, welche andere Inszenierungen eher besser zu nutzen wussten – sie wäre durch den Operngucker zu betrachten – und man verliert dann den Überblick.

Das Ganze kippt plötzlich in den Kitsch

Irgendwie scheint es, dass Stölzl mit der Wahl dieses Stückes nicht ganz glücklich ist, die Handlung für sentimental und kitschig hält – und da ist einer versucht, sich an den alten Spruch zu erinnern: „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“. Denn Stölzl setzt sich unverkennbar gegen Kitsch und Sentimentalität zur Wehr, indem er diese parodiert, verstärkt und überhöht. Da kippt das Ganze und wird – völlig unerträglich.

Fotoprobe „Der Freischütz 2024, Katharina Ruckgaber (Ännchen) © Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann

Die Seejungfrauen mit ihren Leuchthauben, die auf den Vollmond projizierten christlich-religiösen Symbole, die plötzlich in kitschigen Farben beleuchtete Bühne – das kontrastiert mit der subtilen Bosch-Bruegel-Bilderwelt und der so überaus kunstvollen winterstarren Dorflandschaft.

Gut funktioniert der ins Gigantische gesteigerte Kitsch beim rettenden Auftreten des Eremiten und prachtvoller Gewandung – ziemlich öde wird’s aber zuvor beim übergriffigen Frauenjäger (auch er somit ein Mitglied der Jagdgesellschaft) Fürst Ottokar (Liviu Holender) – ein mäßiger Bariton und eher dürftiger Schauspieler noch dazu – in seiner pastellfarbigen Märchenkutsche begleitet von drei wohlfeilen Gespielinnen: da nimmt der Kitsch doch ungebührlich Überhand…

Die Duftmarke des Regisseurs

Der Regisseur hat so einiges weggelassen, modifiziert und hinzugefügt; die musikalische Anreicherung durch ein Trio aus Cembalo, Kontrabass und Akkordeon brachte wenig Zusätzliches und wurde vom Publikum auch kaum wahrgenommen. Dass Agathe im dritten Monat schwanger ist und daher ihren Max ganz dringend und schon gleich morgen ehelichen muss (da sie sonst „als Hure“ mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt wird), ist eine durchaus plausible Ergänzung.

Dass der zeitgemäß denkende Regisseur die doch eher passive Opferfigur der Agathe zu einer selbstbewusst handelnden und das Leben in die eigene Hand nehmenden Frau aufwerten will, ist durchaus lobenswert – dass ihr dann aber durch einen ausgiebigen Zungenkuss mit Cousine Agathe lesbische Tendenzen angedichtet werden ist doch vielleicht eher überflüssig. Aber, ganz klar, heutige Regisseure müssen eben überall wo’s irgendwie geht, ihre Duftmarke anbringen.

Musikalischer Hochgenuss

Überaus gelungen ist das Gruselige der Spukszenen um die Wolfsschlucht, vor allem akustisch: Das Wolfsheulen, Krähenkrächzen und Hundegebell aus der phänomenalen Lautsprecheranlage der Seebühne ist umwerfend, phänomenal auch der Orchestersound aus diesen Weltklasse-Lautsprechern.

Dieses Orchester – das Hausorchester Wiener Symphoniker unter der energiegeladenen, temperamentvollen und dennoch so sorgfältig-respektvollen Stabführung von Enrique Mazzola ist schlicht ein Hochgenuss – deutsche Romantik pur.

Fotoprobe „Der Freischütz“ Bregenzer Festspiele © anja koehler |

Und die Stimmen erstklassig: Zum Niederknien geradezu der blütenreiche Sopran der Agathe von Nikola Hillebrand als kongeniale Partnerin Agathes Cousine Ännchen, kraftvoll und doch so melodiös interpretiert von der Sopranistin Katharina Ruckgaber. Ein solider Tenor mit butterweichem, schönem Gesang der Max von Mauro Peter, als kraftvoller Bass der Kaspar des Christoph Fischesser.

Fotoprobe „Der Freischütz 2024 © Bregenzer Festspiele / Daniel Ammann

Die Story des „Freischütz“ mag eine echte Kuriosität aus der Opern-Rumpelkammer sein – doch wir lieben immer noch den Grusel in unheimlichen Schluchten bei Unwetter, Donner, Blitz und Wolfsgeheul, wir lieben den zynisch-selbstverliebten Mephisto mit seinen simplen Reimsprüchen und vielleicht gar die nach Jägerburschen schmachtenden Jungfrauen.

Vor allem aber ist Webers herrliche Musik unsterblich – und wird es bleiben: Vor allem wenn sie so hervorragend interpretiert wird wie heute in Bregenz.

Dr. Charles E.  Ritterband, 17. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Inszenierung/Bühne: Philipp Stölzl
Kostüme: Gesine Völlm
Licht: Philipp Stölzl, Florian Schmitt

Samiel: Moritz von Treuenfels
Agathe: Nikola Hillebrand
Ännchen: Katharina Ruckgaber
Max: Mauro Peter
Kaspar: Christoph Fischesser
Kilian: Maximilian Krummen
Ein Eremit: Andreas Wolf
Ottokar: Liviu Holender
Brautjungfern: Theresa Gauß, Sarah Kling

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